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zu bringen. Das erfordert Hinordnung auf den Andern, Eingehen
auf die Sacherfordernisse seines Geistes, dabei Behutsamkeit, Zart-
gefühl, Beflissenheit
1
.
Nicht schlechthin einfach ist dagegen die Stellung des H a s s e s .
Dieser hat nämlich, freilich nicht als persönlicher, sondern rein sach-
licher verstanden, eine doppelte Stellung. Der Haß und seine milde-
ren Formen, nämlich Abneigung, Kälte, Fremdheit, sind einerseits
im Rahmen der Gezweiung Unvollkommenheiten, da sie ja Ab-
lehnung oder Minderung der Gezweiung in sich schließen; aber
andrerseits können sie bei verwerflichen Gezweiungsinhalten doch
vom sittlichen Standpunkt aus auch ein Vollkommenheitszeichen
sein, soweit sie nämlich zur Nichteingliederung in eine schlechte,
wesenswidrige Gemeinschaft oder zur Bekämpfung dieser Gemein-
schaft nötig sind. Diese rein sachliche Feindschaft ist dann kein
Unvollkommenheits-, sondern ein Vollkommenheitszeichen. „Ich
bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
Es ist sogar eine Schwäche des weichen, liebevollen Herzens, den
Abscheu und Haß dort nicht immer aufbringen zu können, wo er
als Antwort auf Unvollkommenheiten nötig wäre. Das ist der
Grund dafür, warum das „gute Herz“ allein nicht schon gut macht.
3.
Das Verhältnis der Formenlehre der Gezweiung zur Sittenlehre.
Unvollkommenheit und der Zug zur Wiedervervollkommnung
Unsere Darlegungen zeigen, daß die ganzheitliche Zergliederung
des Gezweiungslebens, anders gesagt, die o n t o l o g i s c h e F o r -
m e n l e h r e g e i s t i g e r G e z w e i u n g e n zugleich von selbst
zur Lehre vom richtigen Leben in der Gemeinschaft, / zur S i t -
t e n l e h r e wird. Keine subjektive und willkürliche, sondern eine
gegenständliche, einzig am Maßstabe fruchtbarer Seinsentfaltung
des Geistes richtende, also eine ontologische Sittenlehre ist das
Ergebnis der Zergliederung des Gezweiungsbewußtseins.
Es ist auch nicht möglich, die Unvollkommenheitsformen zu be-
trachten, ohne schon jetzt des Zuges zur Wiedervervollkommnung
1
Siehe Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 105 ff.