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zu gedenken, der jeder Unvollkommenheit einwohnt (obgleich wir

damit Späterem vorgreifen).

Jedes Unvollkommenheitsbewußtsein hat zugleich einen Keim

von S c h u l d b e w u ß t s e i n in sich. Daher mischt sich in

Selbstsucht, Kälte, Neid, Haß immer etwas von Schuldbewußtsein,

das, gehört oder ungehört, zugleich als leiser Mahner zur Umkehr,

als G e w i s s e n s r e g u n g , auftritt. In der Fähigkeit zu Schuld-

bewußtsein und Gewissensregung liegt ein Zug zur Wiedervervoll-

kommnung, der die edelste Eigenschaft der menschlichen Natur ist.

In ihm zeigt sich abermals der enge Zusammenhang von Ge-

zweiungsbewußtsein und Sittlichkeit.

Das Schuldbewußtsein trifft nicht nur das eigene Selbst, sondern

steht auch für den Anderen ein und nimmt an seiner Schuld teil —

wie aus dem Wesen der Gezweiung verständlich wird. Nach dem

Satze „Ich bin auch der Andere“ teilt jeder auch die Schuld des

Anderen. (Daraus wird auch für den schon berührten Gedanken des

„stellvertretenden Leidens“, der mit Unrecht als schlechthin sinnlos

gilt, ein Verständnis eröffnet.)

1

Das Verhältnis der Gezweiung zur A b g e s c h i e d e n h e i t ist dadurch

bezeichnet, daß der Mensch durch die Gezweiung hindurchgehen muß, um

zur Abgeschiedenheit zu gelangen. An anderem Orte habe ich dieses Ver-

hältnis näher behandelt

2

.

/

Zusatz über den Begriff des Gezweiungsbewußtseins

im Verhältnis zur bisherigen Seelenlehre

Unsere Beispiele deuten an, welche ungeheure Fülle geistiger Er-

scheinungen dem. Gezweiungsbewußtsein angehört und sich nur

von ihm aus erklären läßt. Andrerseits zeigen diese Beispiele auch,

wie sehr der Begriff der Gezweiung der herrschenden Seelenlehre

fehlt.

Denn das Gemüt, die Liebe ist wahrlich keine geringe Verlegen-

heit aller bisherigen Schulen. Nichts ist dem Menschen wesens-

gemäßer als Liebe. Sie, die Höhe des Geistes, aus „Lustgefühlen“

der Sinneseindrücke herzuleiten (sensualistisch) oder aus Qualitäten

1

Mehr darüber siehe unten S. 133 ff. und öfter.

2

Vgl. Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 184 ff. und 203 f.