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Mit anderen Worten, der Übergang von der Eingebung als Gegen-
stand zur Untergliederung des Gegenstandes in weitere Teilgegen-
stände bildet die V e r a r b e i t u n g der Eingebung zum Begriffe.
(Von der Verarbeitung sowie von der Frage, wieweit auch in An-
dacht und Gezweiung schon Eingebung sei, wird erst später zu
sprechen sein
1
.)
/
Die Behauptung, daß Eingebung am Grunde alles Wissens sei,
wirkt vom Standpunkte der alten Seelenlehre befremdend. Sie
muß daher von ihr abgelehnt werden. Und d o c h b e r u h t
a u f d e m V e r s t ä n d n i s s e d e r E i n g e b u n g u n d a u f
d e r k l a r e n U n t e r s c h e i d u n g v o n E i n g e b u n g
u n d V e r a r b e i t u n g d a s V e r s t ä n d n i s d e r g e s a m -
t e n V o r g ä n g e d e s E r k e n n e n s . Die Tatsachen drängen
überall gebieterisch zum völligen Verlassen des sensualistischen
Standpunktes und zur Anerkennung der Eingebung. Auch die herr-
schende Seelenlehre spürt das, aber ihr fehlen die Begriffsmittel,
um eine Eingebung anerkennen zu können. Das möge ein kurzer
Überblick zeigen.
Die
empiristische
Erklärung
des Wissens
geht von der Sinneswahr-
nehmung aus. Daher muß sie das Denken zuerst aus Wiedererzeugung und
Umbildung von Sinneswahrnehmungen zu Vorstellungen und sodann aus „Asso-
ziationen“ derselben nach dem Grundgesetze der Berührung, das heißt der
Abfolge oder Gleichzeitigkeit, entstehen lassen. Hier ist keine Möglichkeit,
zum Eingebungsbegriffe zu gelangen — aber auch nicht zum Wahrheitsbegriffe.
Denn die Eingebung muß, wenn sie eine solche sein soll, etwas grundsätzlich
N e u e s an sich haben, muß s c h ö p f e r i s c h sein. Wie sollte aber aus
bloßer Verbindung und Wiedererzeugung schon vorhandener Vorstellungen
N e u e s hervorgehen, wie sollte auch beim Walten eines mechanischen „Asso-
ziationsgesetzes“ echtes Schöpfertum möglich sein? Zwar scheint dem Empiris-
mus „blitzschnell eintretendes Schließen“ oder „blitzschnelles Erraten“ von
Zusammenhängen „vorher unbemerkter Vorstellungen“ nach Assoziationsgesetzen
möglich. Aber gerade das ist keine Eingebung, denn über die Verbindungen
des schon vorhandenen Vorstellungsstoffes kann solche Schein-Eingebung nie
hinausgehen. — Die neueren Verbesserungsversuche haben am Grundsatze der
Assoziation nie gerüttelt, sie wollten ihn nur ergänzen. Schon Wilhelm W u n d t
suchte den Willen hinzuzufügen („Apperzeptionstheorie“), S t u m p f den asso-
ziativen Gebilden „psychische Funktionen“ überzuordnen, Meinong und Ehren-
fels die „außersinnliche Vorstellung“ (Gestaltqualität), K ü l p e und seine
Schule die „Zielvorstellungen“ als richtunggebende (und doch determinierende)
Kräfte den „assoziativen Reproduktionstendenzen“ beizugesellen. Diese Versuche
haben eine gute Richtung, sind aber zuletzt nichts anderes als neue Verwicklungen
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Siehe unten S. 67 ff. und 87 f.