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schiede nämlich von dem eingebungsvollen oder intuitiven Denken.
Die Eingebung hat tiefe Wesenserfassung der Dinge zur Aufgabe,
die Verarbeitung dagegen folgerichtige Untergliederung, strenge,
unerbittliche Logik. Dem / eingebungsvollen Denken kommt
T i e f s i n n, dem verarbeitenden oder reflektierenden Denken
S c h a r f s i n n zu.
Man erkennt daraus abermals die grundlegende Bedeutung des
Eingebungsbegriffes. Das verarbeitende Denken ist jenes, welches
die Schulen beschäftigt. Mit ihm sind vornehmlich die Tageskämpfe
der Wissenschaft erfüllt. Die großen, königlichen Eingebungen da-
gegen sind nur spärlich und erfordern oft ganze Geschlechter, um
die Verarbeitung durchzuführen. Das ist eine geistesgeschichtliche
Wahrheit, die schon Schillers bekannte Xenie ausspricht:
Kant und seine Ausleger
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.
Der formale Gang des verarbeitenden Denkens in seiner Eigen-
schaft als Untergliederung des Gegenstandes, das heißt A n a l y s e ,
welcher die wiederaufbauende Zusammensetzung oder S y n t h e s e
folgt
1
, ist durch die bisherige schulmäßige formale Logik ausge-
zeichnet dargestellt worden. Darüber hinaus sehen wir den Gang des
untergliedernden, begriffbildenden Denkens hauptsächlich durch
folgende Punkte bezeichnet:
1.
F e s t h a l t u n g d e r E i n g e b u n g . Es ist nötig, die ur-
sprüngliche Eingebung im Laufe der Untergliederungen nicht zu
verlieren. Das ist keine leichte Aufgabe für den Geist, weil sie stete
Sammlung und eine gewisse innere Gewecktheit erfordert. Auf dem
Nichtfesthalten der Eingebungsgrundlage eines Begriffes beruht fast
alles Widersprechende, Verworrene, Unlogische des verarbeitenden
Denkens.
2.
Im Laufe der Untergliederungen tritt eine V e r m e h r u n g
d e s V o r s t e l l u n g s s t o f f e s und der sonstigen Darstel-
lungs- / mittel des Begriffes ein (die Darstellungsmittel können
z. B. auch der Stufe der Gezweiung entnommen sein, müssen also
1
Analyse und Synthese nur im formellen Sinne verstanden. Zuletzt be-
ruht nämlich auch das analytische Urteil auf einer synthetischen Geistestat.
Vgl. Philosophenspiegel, Leipzig 1933, S. 81 f. [2. Aufl., Wien 1950, S. 101
f.].