74
[79/80]
Die „bejahende“ und „verneinende“ Eigenschaft des Urteils gehen auf Gliederung
und Entgliederung, Bindung und Lösung.
Der
Schluß
erweist sich ebenfalls als eine Tat der Untergliederung, aber als
solche, die sich aus mehreren vorangegangenen Gliederungen (Unterteilungen)
erst ergibt, kurz gesagt als eine Tat der F o r t g l i e d e r u n g . Da jede
Fortgliederung von den jeweils vorgegebenen Anfangsgliederungen oder Anfangs-
ganzheiten (Gesamtganzheiten) ausgehen muß, ist es verständlich, daß der Schluß
ebensowohl an bestimmte Voraussetzungen, Anfangsgliederungen ( P r ä m i s s e n )
gebunden ist, wie er eine bestimmte Folge-Gliederung ( K o n k l u s i o n ) setzt.
Eine solche Aufeinanderfolge von Schlüssen, welche den Gliederbau der Ganz-
heiten als Stockwerkbau von Gattungen und Arten darstellt, wird als
Einteilung
bezeichnet.
/
Den Vorrang unter all diesen Formen hat der Begriff (das Begriffsgebäude),
denn er ist die Ganzheit, der Gliederbau, welcher alle Gliederungsformen und
Gliederungsvorgänge in sich schließt.
Hinsichtlich des
Verfahrens
ergab sich bereits, daß der Fortgang der Unter-
gliederung: Zerlegung, das heißt A n a l y s i s , ist, während das Zurückschreiten
von den unteren Gliedern zu den höheren Ganzheiten: Wiederaufbau oder
S y n t h e s i s ist. Damit sind die Hauptverfahren der formalen Logik, Analysis
und Synthesis, in ihrem Wesen verstanden. Dagegen ergibt sich, daß die In-
d u k t i o n in Wahrheit kein Verfahren des Denkfortganges ist. In Wahrheit
wird auch in der Naturforschung dem Forscher nicht durch Häufung vieler Fälle,
sondern an einem einzelnen Falle das Wesen der Sache klar. Das heißt aber: dem
Forscher kommt eine Eingebung, welche mit einem Schlage alle zugehörigen
Fälle erklärt und die Grundlage der Begriffsbildung darbietet. Auch der natur-
wissenschaftliche V e r s u c h kann nicht ohne vorherige Theorie angestellt
werden. Was „Induktion“ genannt wird, ist im besten Falle eine Vorübung zur
Erlangung einer Eingebung, was dagegen „D e d u k t i o n“, eine fortschreitende
Untergliederung, die ohne neue Erfahrungen vorgenommen werden kann (näm-
lich aus der Analyse des Begriffes allein, jedoch nicht ohne synthetische Taten
des Geistes, die in dieser Analyse liegen
1
).
Klar sprach den Grundgedanken schon der Pythagoreer A r c h y t a s aus:
„Wenn jemand vermöchte, alle Gattungen (
γένεα
) in ein und dasselbe Prinzip
(
άρχή
)
aufzulösen (
άναλύοαι
) und daraus wieder zusammenzusetzen und zu
fügen
(
αυνθειναι
καί
ουναρθμησασθαι
)
, so erscheint er mir als der Weiseste
und als teilhaft aller Wahrheit und als Inhaber einer Warte, von der aus er Gott
erkennen kann und alle Dinge, wie dieser sie nach Gegensätzen und Ordnungen
(
έν τά συστοιχία καί τάξει
)
gegliedert hat
2
.“
Zusatz über Assoziation und Denken. Denken und Gewohnheit
Vom Standpunkte der herrschenden Schulen aus könnte man ein-
wenden, daß in unserer Ableitung des Denkens die Besonderheit
1
Siehe oben S. 67 ff.
2
Angeführt bei Otto Willmann: Philosophische Propädeutik, Teil 1 (Logik),
Freiburg 1912, S. 12. Weiters über Denklehre siehe unten, S. 89 ff., im Ver-
gleiche zur Gestaltenlehre (Ästhetik).