[78/79]
73
Man kann zwar nicht sagen, daß der Wissenschaft der formalen
Logik die Unterscheidung von Eingebung und Verarbeitung bisher
völlig fremd geblieben wäre, aber wohl, daß diese Unterscheidung
auf ihre Darstellung des Denkvorganges keinen Einfluß übte, schon
weil sie mit der Eingebung nicht Ernst machte. Unerläßlich ist es:
das eingebende Denken als den Grundgegenstand oder Gesamtgegen-
stand a u f f a s s e n d und das verarbeitende Denken als denselben
u n t e r g l i e d e r n d zu bestimmen; sodann aus den Unterglie-
derungen und den darin enthaltenen vielfachen Gliedhaftigkeiten
der Gegenstände (Begriffe) erst die Sonderformen: Urteil, Schluß,
Einteilung, Verfahren usw., also in ihrer Stellung und Rolle für die
Untergliederung der Begriffswelt, zu bestimmen.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß aber vor allem der sensualistische Grund-
irrtum, den wir schon berührten, beseitigt werden, als wäre der
Begriff
nur die
Summe der vielen Dingen „gemeinsamen Merkmale“, welche „Gemeinsamkeit“
angeblich nach der „Ökonomie“ des Denkens (M a c h ) oder nach dem prakti-
schen „Erfolge“ (Pragmatismus von J a m e s ) gebildet werden soll. Auch die
Windelband-Rickertische Begriffsbildungslehre
leidet noch
in entscheidenden
Punkten an diesem empiristischen / Mangel, wie ich anderen Ortes zeigte
1
. Das
Wesen des Begriffes darf nicht von den Merkmalen her, sondern die Merkmale
müssen vom Begriffe her bestimmt werden — die Glieder von der Ganzheit her!
Der echte Begriff gibt den Gegenstand als Ganzheit wieder und faßt ihn dann
nicht als „Summe gemeinsamer Merkmale“, sondern als h ö h e r e G a n z h e i t ,
das heißt als A l l g e m e i n e s , das zu Untergliederungen (zu gliedhaften Merk-
malen) führt; er faßt den Gegenstand aber auch zugleich als n i e d e r e
G a n z h e i t , das heißt als Glied, welches höhere Ganzheiten über sich hat
und dadurch selber das B e s o n d e r e eines Allgemeinen ist. Jeder Begriff hat
diese beiden Seiten, des Allgemeinen und des Konkreten, zugleich und ist daher
stets das Konkret-Allgemeine. — Von diesem Gesichtspunkte aus sind erst die
Aufgaben der untergliedernden Denkvorgänge zu stellen, also die „logischen
Operationen“ zu erforschen.
Das
Urteil
(S ist P) stellt sich dann nur der äußeren Form nach als eine
Verbindung von Subjekt und Prädikat dar. Grundsätzlich ist das Urteil eine
Unterordnung des Gliedes unter die Ganzheit, also dem reinen, wesenhaften
Zusammenhange der Begriffe nach jene Tat des Denkens, welche die Unter-
gliederung des höheren (allgemeineren) Begriffes vornimmt. Beispiel: die Eiche
ist ein Baum = die Gattung Baumheit hat zum Gliede die Eichenheit, die
Eichenheit hat zum Gliede die einzelne Eiche. Allerdings ist der Stockwerkbau
der Gattungen, Arten, Glieder nicht in jedem Urteile so einfach ersichtlich
2
.
1
Die Einheit von Theorie und Geschichte, Festschrift für von Below,
Berlin 1928, S. 322, jetzt in: Kämpfende Wissenschaft, Jena 1934, S. 159 ff.
2
Prädikation ist jedenfalls nicht die „Hinzufügung einer Eigenschaft“ zu
einem Subjekte, sondern Festlegung der Gliedstellung des Subjektes. Vgl. dazu:
Kämpfende Wissenschaft, Jena 1934, S. 162 ff. und 172.