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Gehen Ähnliches erleben müssen wie beim Gehenlernen, dann blieben uns für
höhere geistige Tätigkeiten keine Möglichkeiten mehr übrig
1
.
Werden die „Assoziationen“ als jene naturgesetzlichen Gebilde gefaßt, welche
den „Stoff“ darböten, aus dem sich das Denken die Vorstellungen hinterdrein
auswählte, so wäre sogar diese Auswahl nur scheinbar „teleologisch“ gedacht.
Denn auf dem Mechanischen kann sich nicht das Freie gründen. Vielmehr, wenn
das fortgliedernde Denken auf Grund der Eingebung neue, konkretisierende Ge-
dankenelemente (Begriffsglieder, also eigentlich keine Vorstellungen!) bildet oder
alte erweckt, so geschieht das nicht aus einem assoziativ bestimmten Vorrate von
Vorstellungen, sondern aus einem Vorrate von Begriffszusammenhängen, von
geistigen Ganzheitszusammenhängen.
Dabei sind aber Erweckung und Neubildung jener Gedankenelemente (Begriffs-
glieder), die zur Verfolgung des betreffenden Gedankenganges / notwendig
sind, das Entscheidende für das Verständnis des untergliedernden Denkens. Die
Neubildung aber ist nicht weniger als: eine Hilfseingebung, eine ergänzende Ein-
gebung, die aber durch den Rahmen der allgemeinen Eingebung, von welcher aus
dem untergliedernden Denken die Aufgabe gestellt ist, bestimmt wird. Der Weg
des verarbeitenden Denkens ist daher nicht zwangsläufig vorgegeben. Es handelt
sich nicht um eine äußerliche Einschiebung vermittelnder Zwischenglieder. O h n e
f o r t g e s e t z t e s c h ö p f e r i s c h e T ä t i g k e i t i s t a u c h d a s v e r -
a r b e i t e n d e D e n k e n u n m ö g l i c h . Indem dieses Denken vom Allgemei-
nen zum Besonderen schreitet, muß es die Sondergliederungen immer wieder
selber finden; derjenige Rahmen, den der Allgemeinbegriff (die allgemeine Intui-
tion) gibt, genügt dazu noch nicht.
Ein weiterer Punkt, der bei der Beurteilung des verarbeitenden Denkens zu
beachten bleibt, ist das Allgemeingültige, Übersubjektive desselben: Im A a s -
g l i e d e r u n g s e r f o r d e r n i s
d e r
h ö h e r e n
G a n z h e i t e n
d e s
D e n k e n s , i m A l l g e m e i n b e g r i f f e , i s t w e s e n s g e m ä ß v o r g e -
z e i c h n e t , w i e d i e U n t e r g l i e d e r u n g d u r c h z u f ü h r e n s e i .
Die höhere Ganzheit, ein übersubjektives Element ist es also, welches überall die
Wahrheit des Gedachten verbürgt.
2.
Das Wesentliche des Denkens
ist die Eingebung.
Vom Begriff der Wahr-
heit aus werden wir abermals zur Eingebung als der Grundlage alles Denkens
zurückgewiesen. Die grundlegende Eingebung verlangt auch, wie sich zeigte,
in der Weiterverarbeitung immer wieder ergänzende Eingebungen. Dem Nicht-
Denker fehlt die innere geistige Kraft, den Gegenstand eingebungsvoll zu
erfassen, welcher dem Denken zur Verfügung steht. Daher gilt auch der
Satz: Der eingebungskräftige Denker kann sich immer zur Verarbeitung zwin-
gen, er hat auch die Begabung des verarbeitenden Denkers; der verarbeitende,
systematische Denker dagegen ist der Mann der schwächeren Eingebung, er
kann es zur letzten grundlegenden Eingebung kaum bringen; aber er hat noch
die Kraft zur ergänzenden Eingebung, zum untergliedernden Denken. Die
Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie erweist auch die Richtigkeit
dieses Satzes. Kant und Hegel sind bei aller hohen Schöpferkraft mehr syste-
matisch, aber weniger eingebungsvoll als Schelling und Fichte, ähnlich Aristoteles
bei aller Größe weniger als Platon, Thomas von Aquino weniger als Bonaventura
und Meister Eckehart.
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Vgl. über Gewohnheiten auch unten S. 109 und 151
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