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8.
Bemerkung über Vollkommenheits- und Unvollkommenheits-
formen des Wissens
Eine überblickende Darstellung der Vollkommenheits- und Un-
vollkommenheitsformen des erkennenden Bewußtseins, wie sie
beim Gezweiungsbewußtsein erfolgte
1
, würde hier zu weit führen.
Einige grundlegende Gegenüberstellungen ergaben sich bereits im
Laufe der bisherigen Untersuchungen, so: T i e f s i n n gegen
S c h a r f s i n n
2
; l o g i s c h e R i c h t i g k e i t u n d W i d e r -
s p r u c h s f r e i h e i t gegen W i d e r s p r u c h u n d U n -
l o g i k im untergliedernden Denken
3
; g e s a m m e l t e s gegen
z e r s t r e u t e s D e n k e n (Mangel an Selbstzucht des Denkens,
Ideenflucht
4
); l e b e n s n a h e s , weil eingebungstiefes, gegen
l e b e n s f r e m d e s , weil eingebungsschwaches Denken (Faust ge-
gen Famulus Wagner). — Die Verwurzelung des Denkens in der
Gezweiung kommt zuerst in der Eingebung zutage, denn Einge-
bung ist zuletzt an Gezweiung gebunden. Sodann zeigt sie sich im
Gebrauche des Wissens / innerhalb der Gemeinschaft. Das wird
insbesondere klar an dem Unterschiede von W a h r h a f t i g k e i t
u n d L ü g e . Beide gehören nicht dem Denken allein an, denn die
Lüge betrifft stets auch den Anderen, sie zerstört die Gezweiung.
Wahrheit dagegen fördert sie. Allerdings kann man nicht immer un-
eingeschränkt alle Wahrheit sagen, die weder das gegenständliche
Gebilde der Gezweiung noch die Fassungskraft des Einzelnen er-
tragen würde (wie z. B. in der Erziehung die hohen Einsichten nur
stufenweise vorgetragen werden, um den Zögling nicht zu ver-
wirren). — Nur mittelbar der Gezweiung, unmittelbar dem Eigen-
leben des Denkens gehört die L ü g e g e g e n s i c h s e l b s t an,
die das Böse haben will und den guten Schein dazu. Nur im milde-
ren Falle entspringt sie der Bequemlichkeit des Menschen, sein Den-
ken und Tun — damit auch seine Gliedstellung in der Gemein-
schaft — nicht zu überprüfen. Selbstbelügung einerseits, philister-
hafte S e l b s t z u f r i e d e n h e i t andrerseits gehen zusammen.
Mut zur W a h r h e i t dem Anderen wie sich selbst gegenüber
gleicht dem Heldentume.
1
Siehe oben S. 45 ff.
2
Siehe oben S. 69.
3
Siehe oben S. 67 f.
4
Siehe oben S. 66 und 76.