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Zeit:

Jedwede Zeit, die kürzer ist als ein Schlag der Ader,

Ist an Ablauf und Wert gleich sechstausend Jahren.

Denn im Lauf dieser Zeit ist des Dichters Werk getan und alle großen

Ereignisse der Zeit gehen vor sich und werden im Laufe einer solchen Zeit

empfangen,

In einem Augenblick und in einem Schlag der Ader

1

.

Daß jedes große Kunstwerk auf Eingebung beruhe, wird ja auch

allgemein anerkannt und liegt womöglich noch klarer am Tage als

beim Wissen. Nur die herrschende Seelenlehre will, weil ihr die

Begriffsmittel zur Erfassung der Eingebung fehlen, die künstlerische

Tätigkeit anders erklären, zum Beispiel als einen „Gefühlsausdruck“

oder als „Spiel“, oder aber mit / Meumann als „ein Darstellen

und Bilden“

2

. Aber die Frage ist: ein Darstellen und Bilden wes-

sen? Wir antworten, nicht etwa „assoziativer Vorstellungsgebilde“

oder „Gefühle“, sondern der Eingebung! Ähnlich steht es mit der

Ansicht, die Kunst sei ein „dargestellter Wert“, sei „die auf Erwek-

kung eines Gefühlserlebens zielende Darstellung von Werten“

3

.

Auch da muß man fragen, woher dieser „Wert“ komme, da der

Künstler doch nicht als Ethiker schafft, — wenn nicht aus der Ein-

gebung?

Denke man nun an ein Schauspiel, ein Tonstück, ein Gemälde,

eine Bildsäule, ein Bauwerk, ein Gebärdenspiel, einen Tanz, überall

stoßen wir auf die Eingebung als die letzte Grundlage des Kunst-

schaffens, die erst durch langwierige Ausgestaltung und Einbildung

in den äußeren Stoff zum fertigen, bis in alle Einzelheiten vor uns

stehenden Kunstwerke wurde.

Der grundsätzliche Sachverhalt der Eingebung, ebenso derjenige

der Annahme (acceptatio) und Verarbeitung ist also in der Kunst

derselbe wie in der Wissenschaft. Er bedarf daher einer neuerlichen

Erörterung nicht mehr.

Was den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ausmacht,

ist die Auffassungsweise der Eingebung. Wird sie als Gegenstand

(Objekt) gefaßt, so entsteht der Begriff; wird sie als Gestalt gefaßt,

1

Wiliiam Blake: Die Ethik der Fruchtbarkeit, deutsch von Otto Frh. v. Taube,

Jena 1907.

2

Joseph Frühes: Lehrbuch der experimentellen Psychologie, Bd. 2, 3. Aufl.,

Freiburg 1929, S. 340.

3

Utitz, Ästhetik und Philosophie der Kunst, in: Lehrbuch der Philosophie,

Bd 2, hrsg. von Dessoir, Berlin, 1925, S. 647 und 650.