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schlusse, das Wissen zur Klarheit gekommen sein, sonst hindert er
den Entschluß, das klare Wollen und Handeln. Jenes Denken, wel-
ches zu keinem Ende kommt, ist entweder ein eingebungsschwa-
ches oder ein unverarbeitetes Denken. Denken und Tun hindern
einander also nur dann, wenn ein nicht eingebungstiefes, nicht ge-
lebtes o d e r ein nicht beendigtes, unentschiedenes Denken herrscht.
Ist Faust unfähig zu handeln? Nein, wohl aber der eingebungs-
schwache Famulus Wagner. Auch der bewußt überlegende, sogar
rationalistische Mensch kann ein starker Willensmensch sein. Wenn
seine Überlegungen aus Eingebungstiefe entspringen, wird auch
sein Handeln lebendig, kraftvoll sein. Auch wird dieses Handeln
trotzdem nichts Berechnendes, Kaltes haben müssen, weil die
Wärme tieflebendiger Eingebung nachwirkt. Es leidet nicht an der
Ohnmacht des Herzens.
Allerdings gibt es auch ein Wissen, das in sich selbst gleichsam
stecken bleibt, das kaum (denn vollkommen wirkungslos kann das /
Wissen nicht bleiben) Grund eines Handelns wird: das verborgen
bleibende, ohnmächtige Wissen, das für diese Welt zu hoch ist, das
Besondere der Welt hinter sich läßt und daher den Weg zum Leben
nicht nimmt.
Der Gegensatz von Denken und Sein hält ebenfalls nicht stand.
Auch Wissen ist Sein als Bestand der Kultur, der Geschichte ebenso
wie eines menschlichen Geisteslebens. Echtes gelebtes Wissen ist
Grund des im Handeln zutage tretenden Seins — tatkräftiges,
machtvolles Wissen.
Für den G e s c h i c h t s s c h r e i b e r kommt es nicht so sehr darauf an, was
jeweils an Wissensstoff in den Lehrbüchern steht, sondern was von dem im
Schrifttum vorgetragenen Wissen tatkräftig, lebensmächtig wird in der Zeit.
Ähnliches gilt von der Kunst: Kunst, die gelebt wird, erhält im Handeln
nochmals ein Sein. Sie ist eine andere als die Kunst, die in Büchern steht, die
individualistische Ästhetenkunst („1’art pour l’art“), die in sich selbst stecken
bleibt. Echtes Wissen, echte Kunst sind nicht selbstgenugsam, sondern Seiten des
einen, ganzen Lebens, das im Handeln seine letzte Darstellung findet. Das folgt
aus der Natur des auf Eingebung beruhenden wie des ausübenden Bewußtseins.
Der Geist ist seiner Natur nach poetisch, denkend und handelnd zugleich.
Wird diese Vollgültigkeit und Gliedhaftigkeit, die allen drei Bereichen zu-
kommt, bedacht, dann sind auch I r r t ü m e r d e r G e s c h i c h t s p h i l o -
s o p h i e , w i e s i e C o m t e u n d D i l t h e y unterliefen, ausgeschlossen. Nach
Comte soll das „Naturgesetz der Geschichte“ in der Entwicklung von der reli-
giösen (theologischen) zur metaphysischen und von da zur wissenschaftlichen