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Zeit zu finden sein, nach Dilthey

1

soll zuerst eine primär religiöse, dann eine

primär künstlerische, endlich eine primär wissenschaftliche Stufe die Entwick-

lung der Kultur kennzeichnen. In Wahrheit steht höchste Kunst ebenso schon

am Anfange wie tiefste Religiosität, was unter anderem Kunst- und Religions-

denkmäler der Eiszeit und aller Völker beweisen. Auch die Gotik ist ein Gipfel

der Religiosität wie der Kunst zugleich. Kunst ist überall Urtatsache des Be-

wußtseins und sie ist dies ebensosehr wie die Religiosität und das Wissen.

Man darf nur nicht das Verfallswissen, welches sich in materialistischen Zeiten

zeigt, den sogenannten Aufklärungszeiten, mit Wissenschaft überhaupt verwech-

seln. In Blütezeiten werden alle Seiten des geistigen Lebens, in Ver- / fallszeiten

vornehmlich die nach außen sich auswirkenden ausgebildet werden. Materiali-

stische Wissenschaft und kapitalistische Wirtschaft sind solche nach außen hin

zur Erscheinung kommende Bestrebungen der Verfallszeiten.

Wenn man demgegenüber etwa sagt, es solle weder der künstlerische noch der

wissenschaftliche Bestandteil einer Kultur die Führung erhalten, sondern der

„ethische“, so vergißt man, daß es einen solchen im s a c h l i c h a b g e s c h l o s -

s e n e n Sinne nicht gibt. Das sittliche Bewußtsein erstreckt sich ebenso auf

Wahrheit und Schönheit wie auf Gezweiung, Handeln und Sinnlichkeit (wie

später zu zeigen sein wird

2

).

Zusatz über schauendes und handelndes Leben

In dem eben Gesagten liegen auch die Voraussetzungen für die Beantwortung

der Frage, ob dem schauenden oder dem handelnden Leben der Vorzug ge-

bühre. Infolge des Eigenlebens der Stufe „Handeln“ kann dieses allenfalls auch

unterbleiben. Was ist aber die Folge davon? Das ist die Frage, um die es hier

geht.

Gleichwie Schauen vor Handeln den Vorrang, hat ihn auch das schauende

Leben vor dem handelnden. Aber gleichwie das Schauen nicht ohne innere Verar-

beitung und die innere Verarbeitung nicht ohne die äußere Auswirkung, das Han-

deln, sich vollendet, so ist auch das schauende Leben nicht vollendet, wenn es

nicht im tätigen seine Auswirkung findet.

Wo aber die Grenze beider, wo der Ausgleich liege? Das hängt von der Tiefe

der Schauung ab. Denn je tiefer sie vordringt, umso mehr läßt sie die Welt

hinter sich. Das verdeutlicht Platons Beispiel im „Theaitetos“ von Thaies, der

nach den Sternen schaut und dabei in den Brunnen fällt

3

. Entscheidend bleibt,

daß die Schauung in sich selbst kein volles Genüge finden könne. Meister Ecke-

hart sagt: „Nun aber wollen gewisse Leute es gar so weit bringen, daß sie der

W e r k e ledig seien. Ich sage, das geht nicht an! Nach der Zeit, da die Jünger

den heiligen Geist empfangen hatten, da fingen sie überhaupt erst an, etwas

Tüchtiges zu schaffen

4

.“

Im gleichen Sinne Fichte: „Handeln, handeln, das ist die Sache. Was nützt

uns das bloße Wissen?“ Das einseitig beschauliche Leben hat außerdem seine

inneren Gefahren, da es nicht zur E r p r o b u n g u n d B e w ä h r u n g d e s

1

Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd 2, Leipzig 1921, S. 344 (Welt-

anschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation).

2

Siehe unten S. 133.

3

Platon: Theaitetos, S. 174b.

4

Meister Eckhart, hrsg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 53, Zeile 23.