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Aber die Natur der Sinnesempfindung selbst, wie wir sie kennen

lernten, spricht gegen diesen Gedankengang und jeden Sensualismus.

Denn die Sinnesempfindung ist, wie sich zeigte, zuletzt nur von der

höheren Ganzheit aus zu verstehen; sie erfordert ferner zu ihrer

eigenen Bestimmung die höheren Geistestätigkeiten (wie noch zu

zeigen); und es ist daher weder der / äußere Reiz auf der einen

Seite noch der Leib auf der anderen Seite das, was sie allein und

grundsätzlich bestimmt, sondern der Geist.

1.

Der Geist, nicht der Leib empfindet

Sensualistisch ist die Auffassung unvermeidlich, daß wir im sinn-

lichen Bewußtsein den „durch den Reiz erregten Leib“ empfänden.

Das ist aber unrichtig. Wir empfinden nicht den erregten Leib,

sondern wir haben Empfindungen mit Hilfe des von Reizen erreg-

ten Leibes: Unser Geist ist es, der empfindet, nicht der Leib.

Daß wir nicht den erregten Leib empfinden, geht daraus hervor,

daß wir beim Sehen weder das Sehzentrum des Großhirns noch

die Netzhaut, sondern den Gegenstand sehen. Die Vorbedingung

dieses Sehens, Netzhaut und Hirn, sehen wir nicht — weil sie nicht

dazugehört.

Alles sinnliche Empfinden hat U n m i t t e l b a r k e i t an sich.

Dieses Unmittelbare, diese Tatsache, daß keine Vermittlung in der

Empfindung eingeschoben ist, macht, daß man den Ton „C“, die

Farbe „rot“, den Geschmack „bitter“ niemandem erklären kann. Je-

der muß es selbst erfahren. Aus dieser Unmittelbarkeit folgt, warum

die vermittelnde, den Geist anregende Vorbedingung in der Emp-

findung selbst nicht enthalten ist. Das Unmittelbare aller Emp-

findung, die Tatsache, daß nicht das Organ, sondern der Geist selbst

empfindet, tritt im H e l l s e h e n besonders deutlich hervor. In

diesem Sinne gilt der (schon an anderer Stelle begründete) Satz:

Alles Sehen ist Hellsehen, alles Hören Hellhören, alles sinnliche

Empfinden überhaupt Hellempfinden

1

. Dasjenige, was beim Hell-

sehen und Hellhören ohne Vermittlung der ordnungsgemäßen

Sinnesorgane vor sich geht und daher in seiner Unmittelbarkeit

unverhüllt hervortritt — das ganz allein ist die letzte Wirklichkeit

1

Vgl. dazu: Der Schöpfungsgang des Geistes, Jena 1928, S. 293 ff.