128
[142/143]
Sensualistisch ist es auch, die Empfindung durch bloßes „Wiedererkennen“ zur
„W a h r n e h m u n g“ zu machen, wie die herrschenden Richtungen tun. Der
grundsätzliche Unterschied von Empfindung und Wahrnehmung ist hinfällig.
Denn die höhere Geistestätigkeit, nicht aber ein „Wiedererkennen“ formt die
Empfindung.
Sensualistisch ist es endlich, einerseits Empfindung und dann „Strukturen“,
„Gestalten“ anzunehmen (was nach allem Früheren hier nicht mehr begründet
zu werden braucht).
2 .
F o r m a l - a p r i o r i s t i s c h ist es, zu sagen, daß die sinnlichen Kate-
gorien (Raum und Zeit) die Empfindung formieren und die Verstandeskate-
gorien erst n a c h h e r Ordnung in das Chaos (der schon formierten Empfin-
dungen) brächten
1
. Auch hier hat die Sinnesempfindung noch eine zu große
Selbständigkeit. Der V o r r a n g d e r h ö h e r e n G e i s t e s t ä t i g k e i t e n
v o r d e r S i n n e s e m p f i n d u n g i s t i n d i e s e m v o n K a n t e n t -
w i c k e l t e n G e d a n k e n g a n g e v e r n a c h l ä s s i g t w o r d e n .
3 .
V o m g a n z h e i t l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e a u s ergibt sich viel-
mehr: daß es stets schon ein vorgegebener sinnvoller Gesamtzusammenhang ist, /
in welchem die Formierung der Sinnesempfindung ebenso wie auch die deutende
Eingliederung in einen höheren geistigen Zusammenhang erfolgt. „Derselbe“
Farbenfleck in einem Gemälde und in einer wirklichen Landschaft ist sowohl
wegen der anderen Farbenzusammenhänge in Gemälde und in Landschaft etwas
anderes, wie auch, je nachdem in dem Gemälde Liebe oder Haß und in der Land-
schaft Morgen oder Abend ist. Gleichwie auch der Ton „C“ je nach dem Ton-
zusammenhange (Harmonie und Melodie), in dem er erscheint, und nach dem
sinnvollen Inhalte des betreffenden Tonwerkes eine andere Gliedbedeutung erhält.
Das alles heißt: daß es ein e i n f a c h e s „ S i n n e s d a t u m “ a n s i c h
n i c h t g i b t . Jedes „Sinnesdatum“ hat eine gleichzeitig vielfache Gliedhaftig-
keit in mehreren sowohl sinnlichen wie höheren geistigen Zusammenhängen,
und e r s t d i e s e G l i e d h a f t i g k e i t macht es zu einem bestimmten
„Datum“.
Demnach gilt der Satz: Die B i l d u n g d e r S i n n e s e m p f i n d u n g
i s t d u r c h i h r e g l e i c h z e i t i g v i e l f a c h e G l i e d h a f t i g k e i t
b e s t i m m t .
Dennoch bleibt etwas rein Inhaltliches, Stoffliches übrig, eben dasjenige, was
ermöglicht, daß durch die verschiedenen sinnlichen und geistigen Gliedhaftig-
keiten die Empfindung „rot“ zu rot werde und ebenso der Ton „C“ zu „C“
und nicht zu einer anderen Empfindung. In diesem, zwar erst durch die For-
mierung ins Bewußtsein erhobenen, aber vor aller Formierung stehenden inhalt-
lichen Kerne ist das U r s p r ü n g l i c h e der Sinnesempfindung gegeben
2
.
Zusatz über Eingebung und sinnliche Erfahrung
Der Wichtigkeit des Gegenstandes halber ziehen wir hier noch-
mals ausdrücklich die Folgerung aus dem Begriffe der Eingebung für
das Verhältnis von eingebungsvoller Erkenntnis und äußerer Er-
fahrungserkenntnis.
1
Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga § 10, S. 102.
2
Weiteres über die Sinnesempfindungen siehe unten S. 177 ff. und öfter.