[143/144]
129
Wird die Tatsache der Eingebung überhaupt anerkannt, dann ist
es unvermeidlich, daß die Eingebung den unbedingten Vorrang vor
aller anderen Erkenntnis erhalte (worüber später noch mehr
1
).
Denn nicht nur, daß die Eingebung es ist, welche der verarbeiten-
den Erkenntnis und Gestaltung zugrunde liegt; es zeigte sich auch:
Die E i n g e b u n g i s t a u c h d i e o b e r s t e B e d i n g u n g
d e r s i n n l i c h e n E r f a h r u n g , sofern / nämlich sinnliche
Erfahrung ohne höhere Geistestätigkeit nicht möglich ist
2
. Höhere
Geistestätigkeit der Erkenntnis ist aber ihrerseits wieder nur mög-
lich durch die Eingebung und ihre Verarbeitung. Freilich müssen
die sinnlichen Tatsachen unabhängig von der Eingebung da sein.
„Blau“ oder „warm“ muß in der äußeren Natur gegeben sein, um
empfunden werden zu können. Aber der Stein empfindet nicht
„blau“. Damit der Mensch es so empfinde, wie er es tut, bedarf es
höherer Geistestätigkeiten, und damit diese da seien, bedarf es der
Eingebung. Durch diese Vermittlungen hindurch ist Eingebung die
letzte Vorbedingung für die sinnliche Erfahrung.
Mit anderen Worten heißt das auch: Das eingebungsvolle Er-
kennen schließt alles, was man als das Rationale, Empirische, Posi-
tive, exakt Beweisbare der Erfahrung bezeichnet, in sich ein. Die
Sinneserfahrung muß in den Zusammenhang der bisherigen Ein-
gebungen aufnehmbar sein, sonst kann sie nicht vollzogen werden.
Die V e r s c h i e b u n g e n i n d e n g e s c h i c h t l i c h e n
E r k e n n t n i s b i 1 d e r n d e r Z e i t e n u n d
K u l t u r e n g e h e n d a h e r n i c h t v o n d e n ä u ß e r e n
E r f a h r u n g e n a u s , s o n d e r n v o n d e n E i n g e b u n g e n
— vom Irrationalen, nicht vom Rationalen!
3
Wird diese Stellung der Eingebung anerkannt, dann hat das auch seine Folgen
für den W a h r h e i t s b e g r i f f (wie übrigens aus dem Früheren ohnehin
ersichtlich). Von der Eingebung her hat die Wahrheit überweltliche Begründung,
von der Sinneserfahrung her weltliche. Von der Eingebung her ist sie nur schöpfe-
risch zu erlangen, von der Sinneserfahrung her ist sie die Folge eines Empfangens
1
Siehe unten S. 170 f.
2
Siehe oben S. 36 und 126 f.
3
Daher denn auch nur diejenigen die Naturforscher vom Schlage eines Galilei,
Newton, Darwin, Helmholtz als innerlich große Menschen feiern, welche von dem
Eingebungszusammenhange ihrer Forschungen sich keine Rechenschaft geben und
ihn auch nicht jenem anderen Eingebungszusammenhange vergleichen, der sich
in der Naturforschung eines Kepler, Paracelsus, Goethe, Schelling findet.
9 Spann 14