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Wenn wir von „vervollkommnendem Bewußtsein“ oder „sitt-
lichem Bewußtsein“ sprechen, so bedeutet das, wie betont, nur
eine Zusammenfassung. Denn da dieses Bewußtsein ja nicht eine
eigene Stufe bildet, sondern sich auf allen Stufen regt, gibt es ein
vervollkommnendes Sollen, ein Gewissen jeder Stufe. Die E i n -
h e i t d i e s e r v i e l e n T e i l g e w i s s e n h a t k e i n e i g e -
n e s O r g a n . Es ist nur in der Einheit des Gesamtbewußtseins,
des Ich überhaupt, verankert.
Erst wenn man diese Tatsache festhält, versteht man viele Charak-
tere, welche in manchen Gebieten waches Vervollkomm- / nungs-
streben, rege „Gewissenhaftigkeit“ zeigen, in anderen Gebieten
wieder kaum ahnen, daß Vervollkommnungsaufgaben ihrer harren,
also in diesen Gebieten ihr Gewissen überhaupt kaum noch erweckt
haben. Viele Menschen sind z. B. im Handeln rechtlich und tüch-
tig, auch in der Gezweiung in ihrer Weise von liebevoller Beflissen-
heit, aber die Frage, ob sie nicht auch ihr Denken vertiefen, ihre
Gestaltungskraft erweitern sollen, kommt ihnen kaum in den Sinn.
Das denkerische und künstlerische Gewissen fehlt ihnen. Dies führt
uns auf den Begriff des S t u f e n b a u e s d e r V e r v o l l -
k o m m'n u n g e n. Im Stufenbaue der Vervollkommnungen gilt
der wichtige Satz: Die Vervollkommnung jeder Bewußtseinsstufe ist
eine zweifache, erstens im Hinblicke auf sie selbst und zweitens im
Hinblicke auf die jeweils höhere Bewußtseinsstufe. Zum Beispiel
kann Wollen und Handeln oder das künstlerische Gestalten einmal
für sich selbst geübt und ausgebildet werden, zum andern aber mit
Beziehung auf unsere Erkenntnisse, also auf die vorgeordnete Stufe
des Wissens. Und der Verstand hat wieder keinen Wert ohne Liebe
(Gezweiungsbewußtsein), diese wieder nicht ohne den metaphysi-
schen Grund. Jede Vervollkommnung einer Stufe weist daher auf
die der höheren Stufe zurück. Daraus folgt aber: daß a l l e
e c h t e V e r v o l l k o m m n u n g z u l e t z t n u r d u r c h
i h r e V e r w u r z e l u n g i n d e r h ö c h s t e n G e i s t e s -
s t u f e ,
d e m
M e t a p h y s i s c h - R e l i g i ö s e n ,
v o l l -
e n d e t w e r d e n k ö n n e . Weder Wahrheit noch Schönheit
noch Gerechtigkeit sind ohne Hinwendung zu Gott möglich, ge-
schweige denn, daß der Mensch ohne sie Vollendung und Erwek-
kung erreichen könnte.