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Auch das vervollkommnende Bewußtsein hat eine arteigene
V o l l k o m m e n h e i t u n d U n v o l l k o m m e n h e i t . Die
Vollkommenheit kann nur darin bestehen, in der Vervollkomm-
nung aller Stufen nicht zu erlahmen, ist also das Gegenteil aller
G e s ä t t i g t h e i t ,
B e h a g l i c h k e i t ,
S e l b s t z u f r i e -
d e n h e i t ,
S e l b s t g e r e c h t i g k e i t , nämlich: W a c h -
s a m k e i t vor Unvoll- / kommenheiten, S e h n s u c h t nach
Besserem. Platon sagt: „Des Guten wegen muß alles getan werden
1
.“
Je höher Geist und Gemüt stehen, umso höher hinauf strebt die
Sehnsucht, denn „w er h a t , d e m w i r d g e g e b e n“.
Daher muß die Erziehung des vervollkommnenden Bewußtseins
überall auf die Erweckung der Sehnsucht abzielen
2
. Meister Ecke-
hart spricht: „Wer hoher Dinge begehrt, der ist hoch ... Wisset,
daß ernsthafte Sehnsucht... Wunder wirket...
3
.“
Auch gegenüber dem vervollkommnenden Bewußtsein versagt der S e n s u a -
l i s m u s grundsätzlich. Vergeblich bemüht er sich, es zu erklären. Wenn er
Gewissen, Sollen, Pflicht aus „ G e w o h n h e i t “ u n d „ E r z i e h u n g “ her-
leitet, diese wieder aus N ü t z l i c h k e i t u n d K a m p f u m s D a s e i n
(Utilitarismus), so bleibt er an der Oberfläche. Er erklärt weder das Durchgängige,
Allgemeine solcher angeblichen „Gewohnheiten“ (des Gewissens usf.) noch auch
das Einsichtige, innerlich Zwingende und Verpflichtende desselben. Damit Ge-
wohnheit und Erziehung zum Gewissen f ü h r e n sollen, muß schon Gewissen
da sein, das heißt, muß Gesolltheit schon als Grundbeschaffenheit dem Geiste
einwohnen. Sollen, Gewissen ist daher eine ursprüngliche, arteigene Erscheinung
des Geistes, keine abgeleitete, kein Ergebnis einer Mechanik der „Lustgewichte“
und „Motive“. Der Sensualismus bleibt auf dem unwahren und primitiven Stand-
punkte stehen, in Gewissen und Pflicht mehr ein Äußerlich-Fremdartiges zu
sehen, statt sie aus den inneren Ausgliederungserfordernissen der Ganzheit, also
der sinnvollen Geistigkeit, welche Gesolltheit in sich selbst und zu ihrem Begriffe
hat, zu erklären.
Eine ausführliche Behandlung der Sittenlehre führt in das Gebiet des über-
einzelnen Geistes, der G e s e l l s c h a f t
4
.
/
1
Platon Gorgias 449e.
2
Dazu vgl. meinen Aufsatz über Erziehungslehre in: Kämpfende Wissen-
schaft, Jena 1934, S. 106 ff.
3
Meister Eckhart, hrsg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1857 (seither Neudrucke),
S. 168, Zeile 25.
4
Vgl. Gesellschaftsphilosophie, München 1928, S. 115 ff.; Gesellschaftslehre,
3.
Aufl., Leipzig 1930, S. 368 ff., 485 ff., 490 f., 339; Geschichtsphilosophie, Jena
1932, S. 131 ff. (Sein und Sollen); S. 139 ff. (Wirken und Gezweiung). Vgl. auch
unten Rückverbundenheitslehre.