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Wird nun, wie hier geschah, das Wesen des Gedächtnisses als

nachträgliche Wiederherstellung einer zeitlichen Gesamteinheit /

des Bewußtseins bestimmt, dann ist es zunächst als G e g e n z u g

gegen eine Unvollkommenheit des Geistes zu verstehen, nämlich

daraus, daß die reine Vollkommenheit der Ausgliederungs- und

Umgliederungstaten des Geistes, der A c t u s p u r u s , nicht durch-

wegs erreicht und nirgends durchwegs festgehalten werde. Die

Wiedererinnerung und ihre Gesamteinheit, das Gedächtnis, bestehen

nun nicht nur darin: a) die verlorene Stetigkeit wiederzugewinnen

und das Vergessene je für sich einfach wiederherzustellen; sondern

b) vielmehr noch darin: den n e u e n Setzungen des Bewußtseins

die Anknüpfung an frühere Geistesarbeit zu ermöglichen und ihnen

dabei die Voraussetzungen so zu geben, daß die Einheit der zeitli-

chen Entfaltung, die P e r s ö n l i c h k e i t , gebildet und behaup-

tet werde. An was man sich erinnert und an was nicht, entscheidet

über die Fortbildung der Persönlichkeit.

Wenn demnach das Gedächtnis in sich selbst eine Ganzheit ist

und keineswegs die Summe „assoziativer Reproduktionen“, wie die

mechanistische Seelenlehre behauptet; so ist es auch im einzelnen

wieder untergegliedert. Diese Untergliederungen sind die einzelnen

L e r n g e b i e t e u n d E r i n n e r u n g s g e b i e t e des Men-

schen. Je nach ihrer Gliedstellung im Gesamtganzen des Geistes

wird ihnen daher größere Kraft (Erinnerungsfähigkeit, Lernfähig-

keit) zukommen. Diese Gliedhaftigkeit der Teilerinnerungsgebiete

mit ihren T e i l g e d ä c h t n i s s e n kommt hauptsächlich in dem

zur Geltung, was man die A n t e i l n a h m e (Interesse) nennt. Je

lebhafter, glühender die Anteilnahme, umso bedeutsamer die Glied-

stellung der betreffenden Sachgebiete, sei es für das schon ausgeglie-

derte Ich, sei es für die Umgliederung des Ich, umso besser daher das

Gedächtnis.

Die grundlegende W i c h t i g k e i t d e s G e d ä c h t n i s s e s

f ü r d i e g e s a m t e g e i s t i g - s i t t l i c h e

P e r s ö n l i c h k e i t des Menschen leuchtet damit ein. Gedächtnis ist

wie eineGabe so auch eine Aufgabe. Nicht um die technische Fertigkeit der

/ Wiedererinnerung, z. B. für Wörter, Zahlen oder bestimmte In-

halte überhaupt, handelt es sich; auch keineswegs um „assoziative

Reproduktionen“ (denn die gibt es nur im Sinne des Verfalles und

der Krankheit); vielmehr darum, daß das G e d ä c h t n i s a u s