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l i e h e G e s t a l t d e s O r g a n i s m u s v o r z e i c h n e n ; d a s
V e r d a u u n g s s y s t e m i s t e s , w e l c h e s d i e z e i t l i -
c h e u n d r ä u m l i c h e G e s t a l t u n g a l l e r O r g a n e
a u s b a u t u n d d e n ü b r i g e n O r g a n s y s t e m e n , n a -
m e n t l i c h d e m K n o c h e n - u n d M u s k e l s y s t e m , d i e
V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d i e l e t z t e V o l l e n d u n g
d e r G e s t a l t u n g b i e t e t . Die Gestalt des menschlichen Lei-
bes ist also stufenweise abgeleitet, ist mittelbares Ergebnis, und
zwar nicht nur der räumlichen Ausbreitung des Leibes, sondern auch
der zeitlichen Darstellungsweise des Geistes, welche im Rhythmus
des Herzschlags und Atmens vorzugsweise zur Erscheinung kommt.
Diese Auffassung der leiblichen Gestalt als einer nicht ursprüng-
lichen, nicht unvermittelten Tat des Geistes wird manche be-
fremden. Aber überall, wo der Geist mit äußeren Mitteln arbeitet,
ergibt sich das Abgeleitete, Mittelbare der Gestalt. (Wir bemerken
dazu, daß räumliche Gestaltung, daher räumliche Schönheit, dabei
dennoch etwas U r s p r ü n g l i c h e s ist und bleibt. Aber dieses
Ursprüngliche gehört einer anderen Ebene an, der Geistestat
Kunst.)
Zum Beispiel schafft auch der Erfinder, welcher bestimmte Betäti-
gungsweisen und Naturwirksamkeiten im Auge hat, die Gestalt
seiner Werkzeuge und Maschinen erst mittelbar. Die / Dampfma-
schine, die Dynamomaschine, der Göppel, das Mühlrad, die Turbine
— sie leiten alle ihre Gestalt von den Zeitmaßen und äußeren Mit-
teln ihrer Kräfte ab (denen aber allerdings selbst Gestaltung schon
zukommt). Die o r g a n i s c h e G e s t a l t i s t ü b e r a l l d i e
z e i t 1 i c h - r ä u m 1 i c h e A u s w i r k u n g d e r
T a t e n d e s G e i s t e s , d i e M a s k e d e s G e i s t e s
1
.
Die Auffassung der Gestalt als eines mittelbaren Ausdruckes wird
unseres Erachtens auch durch die P h y s i o g n o m i k u n d G r a -
p h o l o g i e bestätigt. Das Mittelbare der Leibes- und Schriftge-
stalt lehrt uns beide Wissenschaften in ihrer Richtigkeit wie in
ihrer Bedingtheit verstehen.
Aus unserer Auffassung des Verdauungssystems verstehen wir
noch ein anderes System:
1
Vgl. dazu das Beispiel der Radiolarien in meinem Buche: Der Schöpfungs-
gang des Geistes, Jena 1928, S. 500.