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obersten Vorrang einzuräumen. Doch erweist sie sich nicht als stich-
hältig.
Der G e h ö r s i n n ist der höchste Sinn, denn an ihn ist vor-
nehmlich die Sprache geknüpft. Die Sprache aber folgt wieder einer-
seits der Gezweiung (als Mitteilung), andererseits dem Denken.
Denn sie versinnbildet durch Laut und Rhythmus den Wesensge-
halt der Dinge, sie versinnbildet damit den Gedanken, die innere
Regung überhaupt.
Allerdings stellt uns auch der Gesichtssinn den Gegenstand dar,
z. B. den von mir getrennt gesehenen Baum (und Gegenständlichkeit
begründet ja Wissen, Denken); aber er tut dies nicht in gleich tätiger
Weise, wie die Erzeugung der Laute in der Sprache es tut.
Ein Beweis für die hohe Stellung des Gehörsinnes liegt auch in
der Musik. Jene Künste, welche nur mit dem sinnlichen Stoffe des
Gesichtsinnes zu tun haben, Bildhauerei, Malerei und Baukunst,
nehmen nicht den höchsten Rang unter den Künsten ein. Dagegen
hat die Musik die höchste Stellung unter jenen Künsten, welche
ausschließlich sinnlichen Stoff, hier den Laut, zur Verfügung haben.
„Leben atme die bildende Kunst, Geist fordr’ ich vom Dichter,
Aber die Seele spricht nur Polyhymnia aus“, sagt bekanntlich Schil-
ler
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. Die Musik wird nur von der Dichtkunst übertroffen, welche
aber eine geistige Kunst ist. Denn abgesehen davon, daß sie inso-
fern auch Lautkunst ist, als sie es mit Wort- und Zeitmaß zu tun
hat, befreit sie sich von jedem stofflichen Werkzeuge. In der Spra-
che ist sie nicht nur Lautbestand, sondern selbst schon Geist. Daher:
„ ... Geist fordr’ ich vom Dichter“. — Ein weiterer Beweis für
die erste Stellung des Gehörsinnes liegt auch darin, daß der / taub-
stumm Geborene mehr an Geist und Innerlichkeit einbüßt als der
blind Geborene. Dem Blindgeborenen ist die Sprache nicht versagt.
Er kann sich im Gehör eine reichere Welt erschließen als der gebo-
rene Taubstumme. Das ist entscheidend! Außerdem ist der Gehör-
sinn der einzige, der nicht nur aufnehmend ist (durch das Ohr), son-
dern auch erzeugend (durch Kehle und Mund). Spurenweise leuchtet
unser Auge, aber die Kehle und der Mund spricht und singt.
Der G e s i c h t s i n n , der sich sonst als das oberste Organ dar-
stellt, hat im Vergleiche zum Gehörsinne keine geschlossene Welt,
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Schiller: Votivtafeln, 46.