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Formierung gegeben. Denn das Innewerden des Anderen in seiner

Unmittelbarkeit, sei es als Liebe und Neigung oder als Abstoßung

und Abneigung, hat ohne Wissen des Gegenstandes des Gezweiten

weder Ziel noch Wirklichkeit. Liebe bringt noch nicht den Glauben

zur Darstellung, aber Wissen bringt Glauben und Liebe zur Dar-

stellung.

Aber das Wissen hat darüber hinaus noch weitere Bedeutung:

Es ist die Voraussetzung für die Kunst und für jede ausübende Tä-

tigkeit. Erst das Gewußte kann gestaltet werden (worauf der Vor-

rang des Wissens vor der Kunst beruht), erst das Gewußte kann

auch im Handeln Verwirklichung finden. Handeln ohne Wissen ist

unmöglich, denn das hieße Handeln ohne Ziel. Wie Wissen Glauben

und Liebe vollendet, so wird es selbst wieder durch Kunst und Wir-

ken vollendet. Das Gewußte muß gestaltet und in der Außenwelt

verwirklicht werden. Wegen dieser wahrhaft mittehaften Stellung

des Wissens drängt alles in uns nach dem Lichte des Verstandes.

Und darum konnte Aristoteles mit Recht seine „Metaphysik“ mit

den Worten eröffnen: „Alle Menschen verlangen von Natur nach

dem Wissen.“ Daß aber daraus trotzdem nie und nimmer Ratio-

nalismus, Intellektualismus folge, liegt an dem irrationalen Grunde

des Wissens und geht aus dem Aufbau der Ausgliederungsordnung

des Geistes klar hervor.

Diese teils vollendende, teils begründende Stellung des Wissens

erklärt es auch, daß dadurch der unbedingte Vorrang des übersinn-

lichen Bewußtseins, an dem alles hängt, nicht beein- / trächtigt

werde. Zuletzt verlangt alles im Geiste nach Vereinigung mit Gott.

Aber damit der Geist erweckt, ausgebildet und wirkungskräftig

werde, bedarf er des Lichtes des Verstandes, in dem sich so viele

Kräfte sammeln.

Aus den Vorrangverhältnissen der Ausgliederungsordnung ist

ferner die h o h e B e d e u t u n g d e s G e z w e i u n g s b e -

w u ß t s e i n s verständlich. Liebe und Haß sind nicht „Gefühle“

unter Gefühlen. Sieht man sich die großen Gestalten der Dichtkunst

und die Erfahrungen des Lebens daraufhin an, so findet man etwas

ganz anderes: eine grundlegende Stellung der Liebe. Wer kennte

nicht die großen Worte des Apostels über die Liebe: „Wenn ich mit

Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht,

so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn