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hier anführen. S e u s e, der Schüler Meister Eckeharts, erzählt in seiner eigenen

Lebensbeschreibung, in der er von sich in der dritten Person spricht: „In seinem

Anfang geschah es einmal, daß er am Tage St. Agnesen in den Chor ging, wo

der Konvent zu Mittag gespeist hatte. Er war da ganz allein und stand in dem

niederen Gestühl des rechten Chores. Zur selben Zeit hatte er eine sonderliche

Bedrängnis von schwerem Leiden, das auf ihm lag. Und wie er so allein dastand,

trostlos, und niemand bei ihm noch um ihn war, ward seine Seele im Leibe —

oder war es außer dem Leibe? — verzückt. Da sah er und hörte, was allen Zungen

unaussprechlich ist: Es war formlos und artlos und hatte doch aller Formen

und Arten freudenreiche Lust in sich. Sein Herz war gierig und doch gesättigt,

sein Sinn war lustig und wohlgestimmt, seine Wünsche hatten sich gelegt und

sein Begehren war vergangen. Er starrte nur in den glanzreichen Widerglast, in

dem er seiner selbst und aller Dinge Vergessen trank. War es Tag oder Nacht —

er wußte es nicht. Es war vom ewigen Leben eine ausströmende Süßigkeit in

gegenwärtiger stillstehender ruhiger Empfindung. Er sprach danach: ,Ist dies

nicht das Himmelreich, so weiß ich nicht, was Himmelreich ist; denn all das

Leiden, das man in / Worte fassen kann, vermag billig die Freude nicht zu

verdienen, wie man sie ewiglich besitzen soll.

1

Diese überschwengliche Ent-

rückung währte wohl eine Stunde oder eine halbe; ob die Seele im Leibe blieb

oder vom Leibe geschieden war, er wußte es nicht. Als er wieder zu sich selbst

kam, da war ihm ganz und gar wie einem Menschen, der von einer anderen

Welt gekommen ist. Dem Leibe ward von dem kurzen Augenblick so weh, wie

er nicht glaubte, daß einem Menschen, außer dem Tode, in so kurzer Zeit

geschehen könnte. Er kam, ich weiß nicht wie, mit einem grundlosen Seufzer

wieder zu sich, und der Leib neigte sich ohne seinen Willen zur Erde nieder wie

bei einem Menschen, der in Ohnmacht sinken will

1

.“

Es gibt nicht nur innere, sondern auch körperliche Vorbedingungen entrückter

Zustände. Denn bei Zerrüttung des Körpers kann der Geist oft leichter zu sich

kommen als bei völliger Gesundheit. Eine Entrückung solcher Art beschreibt

D o s t o j e w s k i , der bekanntlich Epileptiker war, von sich selbst in seinem

Roman „Der Idiot“ (wobei aber zu bemerken ist, daß nicht jeder Epileptiker

solche Zustände kennt, es bedarf dazu hoher Veranlagung). Dostojewski spricht

von einem ungewöhnlichen Zustande vor dem Anfalle. „Geist, Herz wurden von

einem ungewöhnlichen Lichte erhellt, alle seine Erregungen, alle Zweifel, alle

Unruhe wurden mit einem Male stille, lösten sich in eine heitere, von klarer

harmonischer Freude und Hoffnung erfüllten Ruhe auf. Aber diese Momente,

dieses Aufblitzen war nur eine Vorahnung jener endgültigen Sekunde (es war

nie mehr als eine Sekunde), mit welcher der eigentliche Anfall begann. Diese

Sekunde war früher unerträglich

2

.“

Bekannt ist die Wirkung gewisser Rauschgifte wie Opium, Morphium, Pejotel.

Aber auch Lachgas (Stickoxydul), hinreichend mit Luft verdünnt, ruft Zustände

der Entrückung hervor. Der Entdecker des Stickoxyduls, Humphrey D a v y,

schildert seine Erlebnisse folgendermaßen: „In dem Verhältnisse, wie die ange-

nehmen Empfindungen Zunahmen, hörte alle Verbindung zwischen meinen Vor-

stellungen und den äußeren Dingen a u f . . . Ich befand mich in einer Welt neu-

1

Heinrich Seuses deutsche Schriften, i. Bd, neuhochdeutsch von Walter

Lehmann, Jena 1911, S. 9.

2

Angeführt bei James H. Leuba: Die Psychologie der religiösen Mystik,

deutsch von Ernst Pfohl, München 1927, S. 171.