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von gegebener Ganzheit zur Untergliederung derselben fort, vom
Allgemeinen in das Besondere.
Das Allgemeine, Ganze, von dem die Entfaltung des Geistes aus-
geht, ist zuerst nur in bloßen Umrissen sichtbar. Denn das Körper-
leben, das einen anderen Gang der Ausbildung nimmt als das gei-
stige Leben, verdeckt das wahre Bild.
Zunächst zeigt die Entfaltung des menschlichen Geistes von der
Jugend bis zum Alter in der Erfahrung keineswegs das Bild gleich-
mäßiger Ausbildung aller Fähigkeiten. Schon die früheste Jugend
zeigt keine gleichmäßige Entwicklung des Gemütes, des Wissens,
der Kunst, des Handelns, der Sinnlichkeit. Vielmehr sehen wir das
Kind, vom inneren Gezweiungsleben abgesehen, vor allem mit sei-
nem Körper beschäftigt, es muß erst gehen, die einfachsten Hand-
griffe ausführen, sprechen lernen / usw. Im Jünglingsalter sehen
wir stürmisches Wollen vorwalten, einen Drang nach außen, im
späteren Alter endlich eine Rückkehr in das Innere. Dem tätigen
Leben scheint ein mehr schauendes zu folgen. „In den Ozean
schifft mit tausend Masten der Jüngling. — Still auf rettendem Boot
kehrt in den Hafen der Greis.“ (Schiller.) Aber dieser Hafen
ist voll inneren Lichtes.
Wie ist solche Ungleichmäßigkeit zu erklären? Sind diese oder
ähnliche Bilder des Lebensganges von der Ausgliederungsordnung
des Geistes her, wie sie sich uns ergab, erklärlich?
Würde insbesondere der Stufenbau der Ausgliederungsordnung
nicht verlangen, daß alle Stufen, die ja grundsätzlich nur in Ent-
sprechung miteinander, also zugleich, verwirklicht werden, auch
gleichmäßig zur Entwicklung kommen?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns die E i g e n t ü m l i c h -
k e i t d e r G r ü n d u n g d e s m e n s c h l i c h e n G e i s t e s .
Diese ist dadurch bezeichnet, daß nicht alle Geistesstufen in gleicher
Veranlagung bei der Geburt des Kindes hervortreten, sondern
vornehmlich die beiden äußersten Stufen: das Gezweiungsbewußt-
sein und das sinnliche Bewußtsein.
Diese beiden Stufen sind von Anbeginn ihrem Wesen nach am
meisten konkretisiert. Es leuchtet darum ein, daß alles, was dazwi-
schenliegt, erst nach und nach mit Hilfe der Gezweiung und der
Sinnlichkeit zur Entfaltung gelangen muß. Die dazwischenliegenden