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Daß die Ausbildung des Gewissens eine dem Menschen nicht
leicht erschwingliche Aufgabe ist, folgt aus seiner Stellung im
Gliederbau des menschlichen Bewußtseins und aus dem Satze: das
Vollkommene ist vor dem Unvollkommenen. Um das Vollkom-
mene (als Vollkommenes) zu kennen, bedarf es schon der Vertiefung
der Bewußtseinsgehalte aller Stufen, insbesondere der Gezweiung,
des Wissens, des Gestaltens.
Darum ist es verständlich, daß in keinem andern der bisher be-
rührten Gebiete die E r z i e h u n g so sehr nachhelfen müsse wie
hier. Ohne den Einsatz der Erziehung bliebe der menschliche Geist
noch lange naturhaft und brächte es nur schwer zur Ausbildung des
Vollkommenheitsbewußtseins in Wissen, Gestalten und Handeln.
6.
Das übersinnliche Bewußtsein
Ähnliches gilt von der A u s b i l d u n g d e s ü b e r s i n n -
l i c h e n B e w u ß t s e i n s . Da es sich erst an Wissen, Kunst und
Handeln konkretisiert und Erlebnistiefe erfordert, ist es fast immer
ein späteres Ergebnis der Entfaltung.
Gerade daraus wird verständlich: welche ungeheure innere Um-
wälzung der Durchbruch des übersinnlichen Bewußtseins in der
jungen Seele bedeuten kann. Wo er mächtig erfolgt, bedeutet er
eine Z w i s c h e n - G r ü n d u n g u n d Z w i s c h e n - E n t -
f a l t u n g im Werdegang des Geistes.
Das gleiche gilt auch vom vervollkommnenden Bewußtsein.
Beide Phasen können auch erst in spätem Alter erreicht werden.
Dann haben wir die in der Geschichte bekannten Erscheinungen der
s i t t l i c h e n B e k e h r u n g e n und die noch mächtigeren der
r e l i g i ö s e n B e k e h r u n g e n Erwachsener.
Sind durch alle Zwischen-Gründungen und Zwischen-Entfaltun-
gen hindurch die geistigen Kräfte (und damit auch erst die leib-
lichen Kräfte, die grundsätzlich nachfolgen) entwickelt, d a n n
e r s t
k a n n
e i n
g l e i c h m ä ß i g e r e s
g e i s t i g e s
W a c h s - / t u m dem Wesen der Sache nach eintreten, dann kann
„harmonische Entwicklung“ praktisch erst erstrebt werden. Das Ge-
mütsleben kann fortschreitend vertieft, die Eingebung geweckt
und dadurch das Wissen erweitert, die Gestaltung bereichert, das