[293/294/295]
261
Änderung eintreten? Wieso könnte später (angeblich im zweiten
Lebensmonate) das Kind die zärtlich kosende Stimme von anderen
Gehörreizen unterscheiden und „spezifisch-sozial reagieren“, / das
heißt mit einem Lächeln, mit dem Zeichen einer inneren Regung,
antworten? Es ist durchaus unmöglich, das i n n e r e V e r s t e -
h e n d e s s e e l i s c h e n G e h a l t e s der von der Mutter aus-
gehenden Reize aus der bloßen Anhäufung von Reizen abzuleiten,
dieses innere Verstehen als bloße Resultante von Reizen zu erklären.
Wenn also überhaupt eine „soziale Periode“ auftritt, dann kann
sie nicht aus einer „vorsozialen“ erklärt werden — folglich muß sie
von Anbeginn da sein.
Auch wäre es ohne die führende Stellung des Gezweiungsbe-
wußtseins gegenüber dem sinnlichen Bewußtsein unmöglich zu er-
klären, warum sich ohne Gezweiungsbewußtsein der Geist des
Kindes überhaupt nicht zu entwickeln vermöchte. Sinnesempfin-
dung kann nur durch höhere Geistestätigkeit in das Bewußtsein
erhoben werden. Daher kann die Sinnesempfindung — als Empfin-
dung — erst auftreten n a c h M a ß g a b e der Ausbildung des
Geistes. Dies ist zum Verständnis des kindlichen Empfindungslebens
stets festzuhalten.
Am Anfange der Entfaltung des menschlichen Geistes begegnet
uns also die Grundtatsache, daß die Entwicklung des sinnlichen Be-
wußtseins unter der Führung jener des Gezweiungsbewußtseins
steht. Die Ausbildung der Sinnlichkeit selbst erfolgt anfangs be-
kanntlich hauptsächlich durch Ausbildung der Körperbewegung:
Greifen, Gehenlernen, Übung der Sinnesorgane, Ausbildung des
Raumsinnes und ähnliches.
2.
Die Entfaltung des Denkens durch Ausbildung der Sprache
Ein bestimmter Zweig des gestaltenden Bewußtseins, die Sprach-
bildung, muß zuerst ausgebildet werden (sie beginnt etwa im letzten
Viertel des ersten Lebensjahres), um die Entfaltung der Gedanken-
welt zu ermöglichen. Denn Wissen ist vor Kunst. Aus dem Vor-
range des Wissens ist verständlich:
a) daß das Wissen erst an der Gestaltung sich vollenden könne
(der Gedanke muß ausgesprochen, muß sprachlich gestaltet / wer-
den, um zur vollen Klarheit zu gedeihen; mit der Ausbildung der