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1. Die Entfaltung des Gezweiungsbewußtseins und der äußeren

Sinnlichkeit

Diese beiden entsprechen einander, wobei aber nicht die Sinn-

lichkeit, sondern das Gezweiungsbewußtsein die führende Stellung

innehat. Die L i e b e v e r m i t t e l t z w i s c h e n S i n n -

l i c h e m u n d G e i s t i g e m . Ein Neugeborenes, das nicht zärt-

lich geliebt wird, wird nicht nur in seiner gesamten geistigen Ent-

wicklung, sondern auch in der Entwicklung der Sinnlichkeit Zurück-

bleiben.

/

Die materialistische „Kinderpsychologie“ widerspricht freilich

diesen Sätzen. Sie behauptet, der Mensch käme mit einigen wenigen

Instinktbetätigungen auf die Welt (wie: Schreien, Saugen, Schluk-

ken und einigen Schutzreflexen), käme von den Instinkten erst zur

„Dressur“, genau wie bei Tieren (z. B. das „Bitte“-Machen der Kin-

der), bevor er zum „Intellekt“ käme. Der erste Lebensmonat sei

eine „vorsoziale Periode“. Die Mütter, welche meinten, daß ihr

Lächeln, Beschwichtigen, Trösten, Zureden schreiende Kinder be-

ruhigte, irrten ganz und gar (!). Das Kind unterscheide anfangs

den Menschen von anderen Reizen und Sinneseindrücken durch-

aus nicht (!). Und auch die „Schreiübertragungen“, die namentlich

in Anstalten bewirkten, daß bald alle Kinder schrien, sobald eines

beginne, seien nur auf unangenehme Schallreize zurückzuführen.

Das ist greller Sensualismus, der nicht widerlegt zu werden ver-

diente, spielte er heute nicht eine ganz herrschende Rolle. Fürs

erste ist solchen „Beobachtungen“ entgegenzuhalten, daß sie das

Wesen der Sinnesempfindungen grundsätzlich verkennen. Die Sin-

nesreize und die Veränderung der Sinnesorgane sind selbst noch

keine seelische Tatsache, ergeben noch keine Empfindung. Empfin-

den kann nur der Geist als Ganzes. Der Geist muß aber da sein,

um zu empfinden. Allerdings ist er schon im Mutterleibe da, aber

erst noch gebunden, als Glied der Gattung. Schrittweise g e w e c k t

kann er nur durch die andere Seele werden, durch Gezweiung.

Jeder, der dem Neugeborenen zärtlich in die Augen schaut, findet

in dem aufmerksamen Blick (später dem ersten feinen Lächeln) eine

innere Bewegung, eine Regung der Seele geoffenbart, die sich nicht

wegleugnen läßt. Und wäre nicht vom ersten Anbeginn der Geist

der Mutter Wecker des kindlichen Geistes — woher könnte je eine