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Alter scheitert sowohl an der inneren Freiheit wie an den großen
Begabungsverschiedenheiten wie auch schon an dem grundlegenden
Unterschiede der zwei Gruppen: des k u r z e n L e b e n s u n d
d e s l a n g e n L e b e n s ; ferner des f r ü h r e i f e n u n d d e s
s p ä t r e i f e n Lebens. Zwar ist das kurze Leben oft durch geistige
Frühreife, das lange durch geistige Spätreife gekennzeichnet. Aber
ein strenger Zusammenhang besteht keineswegs. Mozart war ein
Wunderkind, sein Schaffen begann mit sechs Jahren. Er lebte nur
fünfunddreißig Jahre lang und erreichte doch das Höchste. Auch
Novalis wurde nur neunundzwanzig Jahre alt (geb. 1772, gest.
1801). Dagegen waren auch Schelling, Leibniz, Michelangelo, Gauß
Wunderkinder, wurden aber sehr alt. Der langlebige Kant jedoch
(geb. 1724, gest. 1804) war spätreif („Kritik der reinen Vernunft“,
1781). Auch Conrad Ferdinand Meyers Schaffen beginnt erst mit
neununddreißig Jahren (geb. 1825, gest. 1898). Der Beginn des
hohen Schaffens Richard Wagners fällt erst in das dreißigste Jahr
(„Fliegender Holländer“, 1841). Häufiger aber ist der spätreife
Mensch der weniger begabte. — Oft fällt in das späteste Alter die
höchste Schöpferkraft. Cervantes ist fast sechzig, / als er seinen
„Don Quichote“ schreibt, Tizian malt neunundneunzigjährig sein
letztes Bild, die „Pieta“, für sein eigenes Grab mit ungebrochenem
Können.
Stets zeigt sich: Für die E n t f a l t u n g d e s G e i s t e s
g i b t e s k e i n D u r c h s c h n i t t s a l t e r u n d k e i n e
D u r c h s c h n i t t s s t u f e n . Das widerspräche der Freiheit des
Geistes und der Ungleichheit der Begabung. Der schöpferische
Mensch, der Mensch hoher Geistigkeit, der Unerweckte Mensch (die
große Menge) verhalten sich in ihren Lebensaltern sehr verschieden,
jeder Einzelne darunter abermals verschieden. Was waren Goethe
und Schiller vor ihrer Freundschaft und nachher — wie stockte
Friedrich Schlegels Entwicklung nach Novalis’ Tode — so beweg-
lich sind Entfaltungszeiten!
Daher sind es nur A n h a l t s p u n k t e f ü r m a n c h e T y -
p e n, und nicht mehr, wenn wir in Anlehnung an die herkömmli-
chen Einteilungen etwa folgende Zeitabschnitte der geistigen Ent-
faltung nennen:
1.
die Zeit der ersten Entfaltung des Geistes (bis zum Sprechen-
lernen), die oft etwa in die Zeit bis zu zwei Jahren fällt, manchmal