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Daß die Gesamtentfaltung, die sich daraus ergibt, und die Zwischenentfal-
tungen n i c h t mit den Abschnitten der leiblichen Entwicklung einerlei sind,
folgt schon daraus, daß dem A l t e r n d e s L e i b e s d i e i m m e r m e h r
a u s g r e i f e n d e E n t f a l t u n g u n d S e
1
b s t v e r t i e f u n g d e s
G e i -
s t e s e n t g e g e n s t e h e .
Ein anderer grundsätzlicher Unterschied ist, daß der Geist in seiner Ge-
samtentfaltung durch immer neue Zwischengründungen und darauf beruhende
Entfaltungen hindurchgehe; während der Leib nur einmal in der Geschlechts-
reife eine größere ergänzende Zwischengründung erfahre. Der Geist kann immer
wieder eine Wand durchbrechen, immer wieder neue Erweckungen erfahren,
der Leib ist mit etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren am Ende.
Der Fehler der bisherigen Entfaltungstheorien des Menschen liegt darin,
daß man zu sehr daran hing, den Fortgang von der Sinnlichkeit zu höheren
geistigen Tätigkeiten darzustellen (so nicht nur die sensualistisch eingestellten
„Kindespsychologien“, sondern sogar Fichte, Schelling und Hegel in ihren
inneren Stufenlehren). Welche die Rolle der Sinnlichkeit aber auch sei, es ist
nicht richtig, daß der g a n z e Geist zuerst nur als ein bloß sinnliches Be-
wußtsein in die Welt träte und sich erst von diesem zum Denken und Wollen
als zu grundsätzlich neuen Geistestätigkeiten erhöbe.
Daß der Geist als „Gründung“ auftritt, bedeutet vielmehr, daß er von An-
fang an bereits seine gesamte Ausgliederungsordnung enthalte. Der M e n s c h
e n t s p r i n g t z w a r n i c h t w i e A t h e n e g e w a p p n e t a u s d e m
H a u p t e d e s Z e u s — aber immerhin in Junggeborenheit, das heißt mit
allen Elementen seines Wesens. Von A n b e g i n n s i n d a l l e S t u f e n
d e r A u s g l i e d e r u n g s o r d n u n g d e s G e i s t e s v o r h a n d e n ; sie
treten aber allerdings nicht als Stufen in gleicher Gebrauchsfähigkeit auf. Wenn
das sinnliche Bewußtsein auch anfangs eine weit größere Rolle spielt, so darf
man doch nie vergessen, daß dieses ohne die höheren geistigen Fähigkeiten
auch im Anfangszustande nicht verwirklicht werden könnte.
Der allzu sensualistisch und ärztlich, ja irrenärztlich eingestellten „Seelen-
lehre des Kindes“ von heute stellten wir oben folgende Gesichtspunkte ent-
gegen. Indem der Mensch in die Welt tritt, sind es vor allem zwei Stufen
der Ausgliederungsordnung, welche besonders hervortreten: die sinnlichen Emp-
findungen und die Gezweiung. Mit ihnen aber zugleich die Grundlage für:
Denken, Gestalten und Handeln. / Denn, wie sich zeigte: Der Schrei des
Kindes ist Denken ebensowohl wie Gestaltung (was ja der Gebrauch der Stimme
beweist); er ist auch Wollen und Handeln (was die leibliche Selbstbewegung
beweist; diese nur in Reflexe aufzulösen, ist materialistischer Irrtum). Ein Über-
gang zu grundsätzlich Neuem ist nicht möglich. Von einem Zustande des
Nichtwollens zum Wollen, des Nichtdenkens zum Denken, des Nichtgestaltens
zum Gestalten, des Nichthandelns zum Handeln wird man niemals grundsätzliche
Übergänge finden. Die arteigenen Geisteskräfte des Menschen müssen alle
schon von Anfang an da sein und sei es in noch so schwacher Weise. Freilich
muß man, um den tiefen inneren Gehalt des kindlichen Geistes erfassen zu
können, auch innere Kraft des Mitverstehens haben. Die Dichter blicken hier
viel tiefer und erkennen sicherer als jene anspruchsvolle Äußerlichkeit, die z. B.
unter dem Stamme des Behaviourismus (Gehabenslehre) einen neuen Aufstand
geistiger Unterwelt in der Wissenschaft deckt.
Das Bestimmende liegt aber, wie sich erwies, darin, daß die Gründung aller
Bewußtseinsstufen nicht mit gleicher Ausbildung erfolgt. Das sinnliche Be-
wußtsein und das Gezweiungsbewußtsein treten von Anbeginn am meisten