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hervor. (Wer das Gezweiungsbewußtsein — der blinden Naturalistik von heute
folgend — nicht gelten lassen will, braucht nur ein neugeborenes Kind anzu-
lächeln.) Alle anderen Stufen sind dagegen in ungleich schwächerem Maße
vertreten.
Hiermit zeigt sich a b e r m a l s , daß der Weg des Körpers ein anderer
ist als der des Geistes. Dem Abfallen der Nabelschnur (nach sechs bis acht
Tagen), dem Zahndurchbruch (etwa in den ersten zwölf Monaten), dem Zahn-
wechsel (etwa im siebenten Jahre) entsprechen gleiche Gründungs- und Ent-
faltungsvorgänge im Geiste nicht.
Den weiteren Entfaltungsgang des Geistes fanden wir früher
1
durch die
größten Verschiedenheiten der Zwischenentfaltungen bezeichnet. Die daraus
sich ergebenden Umgliederungsforderungen und -Spannungen sind es, welche
den Entfaltungsgang des Menschen so ungeheuer vielfältig und undurchsichtig
machen. Auch beim großen Schöpfergeiste sind die größten Unterschiede mög-
lich, wie der Vergleich der Wunderkinder Mozart, Gauß, Schelling, Michelangelo
mit dem spät reifenden Kant erkennen ließ
2
. Solche Vergleiche führen auf
die Erkenntnis: daß die Z w i s c h e n g r ü n d u n g e n u n d Z w i s c h e n -
e n t f a l t u n g e n i m m e n s c h l i c h e n G e i s t e e i n e n a n d e r e n
G a n g n e h m e n , j e n a c h d e m d i e e i n e o d e r a n d e r e G e i s t e s -
s t u f e i n d e r B e g a b u n g d i e f ü h r e n d e R o l l e i n n e h a t .
/
Der geborene Heilige und Metaphysiker, der geborene Herzensmensch, der
geborene Denker, der geborene Künstler, der geborene Tatmensch und end-
lich der geborene Sinnenmensch — sie alle haben andere Zwischen-Gründungen
und Zwischen-Entfaltungen. Als Richtschnur kann man hier den Satz auf-
stellen: Die E n t f a l t u n g d e r f ü h r e n d e n B e g a b u n g k a n n i n
d i e f r ü h e s t e J u g e n d z e i t f a l l e n u n d s i c h v o n d e r l e i b -
l i c h - s i n n l i c h e n E n t w i c k l u n g i n h o h e m G r a d e f r e i m a -
c h e n . Die Sage, daß Herakles schon in der Wiege die Schlangen erwürgte,
ist ein Sinnbild dafür. Aber auch hier ist eine Vielfalt von Möglichkeiten
vorhanden
3
. Es wäre eben verfehlt, hier Gesetzmäßigkeiten nach naturwissen-
schaftlicher Art suchen zu wollen. Reine Gründung und Entfaltung mit ihren
Untergliederungen wären nur möglich, wenn von Anbeginn alles wesensgemäß
vor sich ginge, wenn also auch die von der jeweiligen Begabung geforderten
Gezweiungs- und Umweltbedingungen erfüllt wären; wenn ferner ebenso die
leiblichen Bedingungen der inneren und äußeren Sinnlichkeit (Gesundheit) stets
erfüllt wären; wenn endlich der Mensch in seinem inneren Eigenleben stets
nach Vollkommenheit handelte und keine Fehlwege einschlüge. Da dies nie-
mals zutrifft, so werden sich stets Abweichungen und Verdeckungen aller Art
einstellen.
Wie es im Leben wirklich zugeht, zeigen uns viele E r w e c k u n g s g e -
s c h i c h t e n jener Heiligen, die gewiß geborene Heilige waren, aber ihre
wesentlichsten und führenden Geisteskräfte nicht voll entfalten konnten, bis ein
besonderes Erlebnis das Verdeckende hinwegfegte. Man denke nur an die Ge-
schichte des heiligen Ignatius von Loyola. Auf anderem Felde zeigt uns ähn-
liches Shakespeare in Heinrich IV., und zwar besonders deutlich an dem Gegen-
satz der Entwickung, welche Heinrich und Falstaff nehmen.
1
Siehe oben S. 259.
2
Siehe oben S. 266.
3
Siehe oben S. 266: die Spätentfaltung Kantens usf.