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d e r e r i n n e r u n g ü b e r h a u p t u n d d e r A u s w a h l des-

sen, was in Erinnerung zu bringen sei und dem weiteren geistigen

Leben zur Grundlage zu dienen habe. Die letztere Leistung erst gibt

der gesamten Entfaltung diejenige Grundlage, welche wesensgemäß

der jeweiligen E n t f a l t u n g s r i c h t u n g d e s I c h , den

Umgliederungserfordernissen des Ich, entspricht. Daher ist es das

ganze Ich in der Einheit aller seiner Stufen, welches leitend hinter

dem Gedächtnisse steht. Das Gedächtnis gleicht hier der Spule, auf

der sich jeder Faden aus der gesamten inneren Arbeit aufwickelt,

aus dem das Tuch unseres Lebens gewebt werden soll.

Die sittliche Beschaffenheit des Gedächtnisses ist es, welche ihm

seine ungeheure Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit

gibt. Seine eigene Entwicklung zu überschauen, das Wesensgemäße

festzuhalten, das Falsche zu tilgen, das ist die Aufgabe, die hier

geleistet werden soll. Die Treue zu seinem besseren Ich ist jedem

Menschen notwendig, der eine innere Entwicklung nehmen will.

Treue zu sich selbst heißt aber Treue zum Andern, weil die eigene

Treue an die Gezweiung gebunden ist. Und Treue ist auch nur

die andere Seite von Dankbarkeit — danken kommt von gedenken,

vom Gedächtnis.

Erst wenn das Ich in seiner Entfaltung auf allen Stufen (besonders

aber auf den für die jeweilige Begabung und jeweilige Zeitstelle

führenden Stufen) die Richtung zum Vollkommenen nimmt, erst

dann wird es auch jenes Gedächtnis bilden, welches das jeweils

Vollkommene der Gesamtpersönlichkeit festhält und so die Treue

zu sich selbst und zum Andern begründet.

Darum ist insbesondere auch für die E r z i e h u n g s l e h r e

die richtige Einschätzung des Gedächtnisses von großem Werte.

Nach unsrer Auffassung darf es sich bei der Gedächtnispflege /

nicht um eine mechanische Stärkung und Übung handeln (wie die

bisherige Psychologie und die Schulerziehung es ansehen). Vielmehr

handelt es sich darum, die Rolle des Gedächtnisses bei der Selbst-

vertiefung des Menschen zu erkennen. Das Gedächtnis muß viel-

mehr im S i n n e i n n e r e r W a h r h a f t i g k e i t gepflegt

werden. Es soll das jeweils Wesenhafte in der Entfaltung jedes

menschlichen Geisteslebens wachhalten, um den Menschen vor

Selbstbelügung und Selbsttäuschung zu bewahren und ihm den Mut

zur Selbstbeurteilung zu geben.