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in der Versenkung vordringt
1
. Die freie Tätigkeit des Geistes
wird sich des unerhellbaren Finstergrundes manchmal bewußt. Dann
spürt der Geist, daß er über einem Abgrunde schwebt und wird von
Grauen gepackt. Es ist wie eine Erinnerung des Chaos, die uns von
ihm anweht, ein kalter Hauch der Vernichtung, der zu sagen
scheint, daß der Mensch niemals seiner Meister werde. Dagegen
stärkt der noch unerleuchtete Ideengrund bei jedem Aufblitzen den
Menschen mit der Ahnung einer höheren Macht.
Der Ideengrund kann auch als dasjenige gekennzeichnet werden,
was in Actus purus verwandelt werden soll. Dagegen der Finster-
grund des Naturhaften in uns als dasjenige, was in / Actus purus
niemals erhöht werden kann, sondern als unauflösliche Grundlage
stehenbleibt, solange unser Geist irdisch ist.
Das Unterbewußte des Sinnlichen erweist sich als die Schranke,
welche dem Geist entgegensteht; das Überbewußte des Geistes er-
weist sich als Keim zum Actus purus. Die Erlangung der Eingebung,
die Annahme und Entfaltung derselben, die Entwicklung der Ein-
gebungsfähigkeit — das alles bedeutet, daß der menschliche Geist
die Ideenwelt und die Allverbundenheit der Geister (Allgezweiung)
zwar in sich hat, aber nicht als entwickelte, sondern nur als er-
weckbare. Der Mensch ist der Ideenwelt noch nicht Meister, soll
ihrer aber Meister werden.
Daß der menschliche Geist sich überall in die sinnliche Natur ver-
strickt findet: bei der Gezweiung in die äußere Selbstsucht und in
die geschlechtliche Sinnlichkeit, beim Denken in die Naturdinge,
beim Gestalten in die Räumlichkeit und Stofflichkeit der ausfüh-
renden Mittel der Künste, beim Wollen und Handeln abermals in
die äußere stoffliche Welt sowie in die Befriedigung der (eigenen
und fremden) Naturbedürfnisse, das macht seine Aufgabe überall
so ungeheuer schwierig. Das Aufhellbare ist überall mit Unauf-
hellbarem, die Idee überall mit dem Stoffe verbunden und liefert
den Menschen gleichsam an das Messer der Notwendigkeit. Darum
sein Drang nach Erlösung umso größer wird, je höher er gestiegen
ist.
Hier zeigt sich, daß die Vervollkommnung des Menschen keines-
wegs bloß eine Verbesserung von Gebrechen seines jetzigen Zu-
1
Siehe das Höhlengleichnis Platons, Staat, VII, 514a ff.