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Standes sein könne. Ein Lahmer wird nicht dadurch schon gelenkig,
daß man ihm einen Stock in die Hand gibt. Vervollkommnung
kann nur als stufenweise innere Neugestaltung des gefallenen, weil
des Actus purus verlustigen Menschen verstanden werden. Nicht an-
ders als durch Erweckung neuer Geisteskräfte ist sie möglich, welche
die Materie im Menschen meistern.
So lehrten die größten Meister aller Zeiten und so lehrt es die
Einkehr in das Innere des Menschen.
/
D.
V o r b e w u ß t e s u n d I r r a t i o n a l e s .
V o r b e w u ß t e s u n d A p r i o r i
1.
Das Irrationale
Der Sensualismus half sich gegenüber den vorbewußten Erschei-
nungen damit, sie aus vielen kleinen, unmerklichen Vorgängen zu
erklären, welche sowohl das „komplexe“ Vorstellungsleben (wo
Assoziationen unbemerkt blieben) wie das Erinnern, wie das Den-
ken (wo mehrere unbemerkt bleibende Prämissen zu einem ein-
fachen Gesamtschlusse führten), wie auch das Wollen und Handeln
(wo mannigfache unklar bleibende Motive mitwirkten) so sehr
kennzeichneten, daß alle seelischen Erscheinungen zum guten Teile
ihr Ergebnis seien.
Merkwürdig, wie hier das Unvermögen alle denkbare Pfiffigkeit
aufbringt, nur um das Bild des mechanisch-atomistischen Herganges
aufrechterhalten zu können.
In Wahrheit ist das Vorbewußte in einem ganz anderen Sinne da.
Überall in unserem Bewußtsein finden wir etwas, was für die Ver-
ständigkeit nicht aufzulösen ist, ein Irrationales. Kein künstlerisches
Schaffen, kein Denken ist ohne Eingebung möglich, Eingebung aber
ist irrational; kein Handeln ist ohne Begeisterung möglich, Be-
geisterung aber ist irrational; kein Erinnern ist möglich, ohne das
Vergessene wieder ins Bewußtsein zu rufen; daß aber ein Unbe-
wußtgewordenes wieder bewußt werden kann, ist irrational (supra-
rational).
Dieses Irrationale, rein tatsächlich Gegebene ist der Untergrund
all unseres Lebens. Wie lebensfern sind daher der Rationalismus,