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Gilt doch das gleiche auch von der S c h ö n h e i t in der Kunst.

Echte Schönheit ist zugleich die Wahrheit der Kunst: die Wahrheit,

die im König Lear, im Faust, im Heinrich von Ofterdingen liegt,

war dem Dichter nur erschwinglich dadurch, daß er das Wesen seiner

Gestalten in sich erweckt, dasselbe Wesen, das in Leben und Welt,

in Geschichte und Tat wirksam ist. Darum wird zwar die Bild-

säule des Gottes, die Phidias schuf, nicht vom Sockel steigen und als

Gott unter uns wandeln, wie die Sage meldet, aber: die göttlichen

Kräfte, die er darstellte, wirken und walten wahrhaftig in Welt und

Leben. Und nur soferne sie dies tun, hatte das Werk innere Wahr-

heit.

In diesem tiefen Ursprung der Wahrheit und Schönheit liegt die

Macht des Gedankens und des Kunstwerkes in Leben und Ge-

schichte.

/

2.

Der Mensch als Ideenführer

Mit der Eingebung ist ein neuer Erkenntnisbegriff und Kunst-

begriff gewonnen. Nicht nur empfangendes Erkennen und Gestal-

ten liegt in der Aufnahme der Eingebung, sondern zugleich Anteil-

nahme an einem Höheren, an den inneren Urgründen des Ich,

Erweckung der höheren Welt in uns — das bezeichnet nunmehr das

Wesen des echten Wissens, bezeichnet auch das Wesen echter Kunst,

das Wesen allen echten Schöpfertums. Schöpfertum ist Schöpfen des

Geistes aus sich selbst, Verkehr mit seiner eigenen in ihm erweckten

inneren Welt, die ihn über sich selbst hinaushebt.

Im E r k e n n e n u n d G e s t a l t e n l i e g t i n n e r e

m e t a p h y s i s c h e T a t .

Soferne Eingebung die Grundlage unseres Wissens und Gestaltens

ist, haben wir durch Wissen und Kunst an der Ewigkeit als einer

inneren Gegenwart in uns teil.

Erkennen und Gestalten heißt, sich mehr und mehr rückverbin-

den in die Geisteswelt, in die Welt sich ausgliedernder Ganzheiten,

die Ideenwelt.

Wenn der Mensch die Idee als Eingebung in sich zu erwecken im-

stande ist, dann muß er sie schon gebunden in sich haben. Ist das

Wahrheit, dann ist der Mensch nichts Geringeres als die oberste,

alles in sich befassende Ganzheit, denn nur das Befaßte läßt sich er-

wecken. Er ist, wie man ihn dann platonisch heißen müßte, Ideen-