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Die Verbindung von Staatslehre und Seelenlehre ist weniger innig

als bei Platon, dagegen tritt die Verbindung von Seelenlehre, Sit-

tenlehre und Metaphysik sehr deutlich hervor. Gott, sagt Aristote-

les, ist der unbewegte Beweger, er bewegt die Welt, wie der geliebte

Gegenstand den Liebenden

1

. Sein Wesen ist Selbstanschauung

2

.

Auch im Menschen ist der Geist: Selbstbewußtsein. Darum ist das

schauende Leben höher als das tätige. — Auch die Verbindung der

Seele mit dem Leibe ist ähnlich gedacht wie bei Platon. Die Seele

ist die „Form“, das heißt die gestaltende Idee des Leibes (aber nicht

nur, denn der höchste Teil der Seele, der Geist, ist über das Leibes-

leben erhaben).

/

Wenn behauptet wird, Aristoteles habe die Seelenlehre als eige-

nes Fach ausgebildet, so trifft das nicht einmal in dem Sinne zu,

daß er sie als selbständigen Teil der Philosophie behandelte. Das

geht aus dem vorstehenden klar hervor. Richtig ist nur, daß Aristo-

teles die Seelenlehre durch Beobachtungen auszubauen suchte (was

selbstverständlich ist). Aristoteles ist himmelweit entfernt von dem

heutigen Irrtume 1. einer nur subjektiven Seelenlehre und 2. einer

Seelenlehre als eines empiristischen Sonderfaches. Gleich eingangs

seiner Schrift „Über die Seele“ sagt er, die Seele sei die Grundkraft

aller lebenden Wesen, daher „die richtige Auffassung des Seelen-

lebens für das gesamte Wissensgebiet, insbesondere aber für die

Naturerkenntnis von größter Tragweite

3

“. Solche unzweideutige

Erklärungen will man aber nicht gerne ernst nehmen und sie

gewissermaßen nur einer metaphysischen Belastetheit des Aristote-

les zuschreiben. Dabei vergißt man aber, daß diese Bemerkungen

allein es sind, welche den Zusammenhang mit dem allgemeinen Sy-

stem des Philosophen herstellen und die tragenden Begriffe seiner

Seelenlehre, Naturphilosophie und Sittenlehre —

νούς,

Selbst-

bewegung, teleologische Naturbetrachtung, Vorrang des schauenden

Lebens, Seele als Form des Leibes und anderes — erklären.

Ohne den allumfassenden, auf das gesamte Sein und die Natur

anwendbaren Begriff der Seele ist weder die Seelenlehre Platons

und Aristoteles’ noch die gesamte Seelenlehre der Alten denkbar.

Die wirklichkeitsfremde Einengung des Begriffes der Seele als Er-

1

Aristoteles: Metaphysik, 1072b.

2

Aristoteles: Metaphysik, 1074b, 33.

3

Aristoteles: de anima, 402a.