[418/419]
371
scheidet drei Vermögen: Erkennen (theoretische Vernunft), Wollen
(praktische Vernunft) und „Urteilskraft“. Aber diese Einteilung
stimmt mit der in Vorstellung, Gefühl und Wille, welche durch ihn
zur endgültigen gemacht wurde, nicht genau überein. Denn die
Urteilskraft soll zu dem gegebenen Besonderen das Allgemeine fin-
den und beurteilen. Die Ge- / fühle (das Angenehme, das Gute,
das Schöne) sollen nach der Verbindung mit den sie begleitenden
Urteilen unterschieden werden
1
. Reflektierende Urteilskraft und
Gefühlsvermögen sind also nicht einerlei. Uns dünkt ferner, daß
gerade die Einteilung in Erkenntnis, Gefühl und Wille im Sinne
der mechanistischen Psychologie liege, welche Kant doch überwin-
den wollte. Wenn auch der ältere Sensualismus die Gefühle nicht
eigens behandelte, so kannte er sie doch als Lust und Unlustbeto-
nung der Vorstellungen. Den Irrtum, der darin liegt, hat Kant
nicht zerstört.
Neu und dem Sensualismus widersprechend ist dagegen die ent-
schiedene Verkündung des P r i m a t e s d e s W i l l e n s , der
„praktischen Vernunft“, durch Kant, womit Augustinus wieder zu
Ehren kommt. Von dieser seiner A u f f a s s u n g d e s M e n -
s c h e n a l s e i n e s w o l l e n d e n G e i s t e s war der ihm
folgende deutsche Idealismus sehr bestimmt.
8.
Fichte. Schelling. Hegel
Als Fichte (
1814) die „Wissenschaftslehre“ begründete, vollzog
er die große Wendung, den Quellpunkt des Ich, die „Spontaneität“
oder, wie er sagte, die „Selbstsetzung“ allein in den Mittelpunkt
der Betrachtung zu rücken. Geist, Bewußtsein sind ihm nichts Ge-
gebenes, sondern ein sich stets aufs neue Setzendes: und darum auch
Freies
2
.
Daraus folgte, daß die Seelenlehre nun wirklich ein Ich, eine
Seele hatte, dasjenige W e s e n , das in allen Formen unseres See-
lenlebens zur E r s c h e i n u n g kam. (Es konnte jetzt auch eine
Trennung von Psychologie und Erkenntnislehre nicht mehr geben.
1
Kant: Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790, § 29, S. 112.
2
Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Leip-
zig, 1794, Sämtliche Werke, Bd 1, Berlin 1845, S. 91 ff.
24*