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Hat man sich einmal den Blick angeeignet, der im Raume
nicht eine leere Form sieht, die erst nachträglich mit Dingen
auszufüllen wäre, sondern die Verräumlichung von Eigenschaften
gestalteter Dinge, dann ist die Welt reicher, kraftvoller, er-
habener geworden. Man fühlt, daß die Natur nirgends Lücken
und Leeren gelassen hat, daß sie zu groß, zu schöpferisch, / zu
emsig am Werk ist, um sich die Gelegenheit zu schaffen ent-
gehen zu lassen. Schaffen aber heißt hier: Eigenschaften ver-
räumlichen, Dinge und Stofflichkeiten bilden. Durch Hand-
lungen, die aus dem Vorräumlichen kommen.
Das Geheimnis des Raumes und der Stofflichkeit kann nur
zugleich enthüllt werden. Wer den Raum versteht, versteht auch
den Stoff. Wer den Raum mißversteht, wie die Atomistik, welche
Dinge in leere Räume hineingeraten läßt, kann den Begriff des
Stoffes niemals erfassen und muß sogar den Begriff des Dinges,
den anschaulichsten Begriff unserer sinnlichen Erfahrung, ver-
lieren.
Aus unserer Erklärung der Verstofflichung ergab sich auch, daß ein fester
Körper durchaus nicht nur eine einzige Gestalt haben müsse. Die Verräum-
lichungstat kann am F e s t e n und außerdem an A u s s t r a h l u n g e n ihre
Einheit finden, so daß der Körper seine feste Gestalt und überdies seine
Strahlungs- oder Feldgestalt, seine „Aura” haben kann.
E r k l ä r e n d e Z u s ä t z e ü b e r Z e i t - u n d
R a u m g e s t a l t
1.
Z u s a t z ü b e r d i e Z e i t m a ß e d e r V e r r ä u m l i c h u n g
A n f a n g i n d e r Z e i t
Können wir über die Zeitmaße der Verräumlichung etwas aussagen? Ich
glaube, man muß sie sich ungeheuer rasch und dicht vorstellen. Die Weltseele
(wir nehmen diesen Begriff hier vorweg) bricht mit unfaßbarer Schnelligkeit
aus dem Überräumlichen in die räumliche Seinsform herein. Der zweite Satz der
Neunten Symphonie von Beethoven, die schnellen Rhythmen der Branden-
burgischen Konzerte von Bach, das atemlose Stürmen und Jagen der Mozartischen
Musik — das möge uns eine Versinnbildung der Zeitmaße des Weltgeistes sein.
Alles echte Schaffen ist unfaßbar schnell, bricht wie zeitlos in die Zeit herein.
Wenn dagegen Goethe seinen „Faust” mit getragenen, erhabenen Rhythmen
(„Die Sonne tönt nach alter Weise...”) beginnt, so tritt uns darin nicht das Wer-
den selbst entgegen, sondern Anschauen und Verehren des Gewordenen.
Die uralten Lehren von einer W e l t m u s i k sind nur verständlich als
ein Wissen um die innere Rhythmik des Werdens, des inneren Schöpfungsganges
der Natur.
/
Das Schaffen der Welt beginnt immer neu. Sein ist nicht, sondern w i r d .
Sein ist nicht ein für allemal, sondern tritt nur im Zuge des Schaffens auf. So
im Geiste, so auch in der Natur. Das Immaterielle bricht immer wieder in das