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merkwürdige Übergänge von großer Sprödigkeit zu großer Dehnbarkeit und
umgekehrt statt. Oder es vereinigen sich große Weichheit und Elastizität einer-
seits, große Härte und Sprödigkeit andrerseits, was ebenfalls auf unstetiges
Verhalten hindeutet, das durch „Resultanten” aus Teilkräften (mechanischen
Molekularkräften) nicht erklärbar ist. Ähnliche Unstetigkeit zeigt die unregel-
mäßige Veränderung der Ausdehnungskoeffizienten fester und flüssiger Stoffe,
z. B. bei Wasser, das bei 4o C seinen kleinsten Rauminhalt erreicht, eine Er-
scheinung, auf der bekanntlich ein guter Teil des Lebenshaushaltes der Natur be-
ruht. Auch die allen Flüssigkeiten eigenen ungleichen Ausdehnungen bei weiteren
Temperaturerhöhungen sind für die mechanische Theorie unerklärlich. Noch
weniger sind die bekannten Überschreitungserscheinungen (Überkaltung, Über-
hitzung, Übersättigung) durch Anziehungskräfte zwischen „Molekülen” er-
klärlich, wie ja überhaupt die Umwandlung eines Aggregatzustandes in einen
anderen von mechanischen Theorien aus nicht wirklich begreiflich ist. Diese
Umwandlungen sind ebenso wie die sogenannten Ermüdungserscheinungen der
Metalle oder etwa die sogenannte Zinnpest nichts anderes als g r u n d s ä t z -
l i c h e Ä n d e r u n g e n d e r G e s t a l t u n g s k r ä f t e . Sie sind daher nicht
nur von Temperatur und Druck oder, wie die „Ermüdungserscheinungen",
nicht nur von chemischen Veränderungen, beziehungsweise von Molekular-
kräften abhängig. Es ist auch vergeblich, dafür eine mechanische „innere Ar-
beitsteilung” anzunehmen, wodurch ein Zusammenhang angeblicher Moleküle
zersprengt würde, wie ja gerade die Überschreitungserscheinungen, z. B. der
Siedeverzug, beweisen, aber auch das Unstetige, Sprunghafte der Wiederher-
stellung der überschrittenen „Gleichgewichte”.
Alle diese und ähnliche Erscheinungen weisen übereinstimmend auf etwas
Arteigenes hin, nämlich auf die a r t e i g e n e G e s t a l t u n g s k r a f t . S i e
i s t e i n U r s p r ü n g l i c h e s , das in der Verräumlichung und ihrer Einheit
in der Gestalt (Rückbezüglichkeit) liegt.
Noch ein letztes Beispiel möge zeigen, daß es sich in der Kohäsion um art-
eigene Formkräfte, nicht um die Resultante molekularer Kräfte handeln kann.
„Ein Kupfereinkristall in Form eines Stabes von 1/2 cm Durchmesser ist so weich,
daß er sich leicht in der Hand biegen läßt, bis er bei starker Biegung sich mit
hörbarem Knirschen in das normale kristalline Aggregat kleinster Kristalle
verwandelt. Damit verschwindet die abnorme Biegsamkeit und der Stab zeigt
die bekannte Festigkeit des Kupfermetalls.
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"
Im Bereiche der Kohäsion sehen wir Unstetigkeit herrschen. Auf dieser
Grundlage erst kann eine arteigene Gestaltungskraft einsetzen. Würden wir
uns getrennte Moleküle denken, zwischen denen Anziehungskräfte nach me-
chanischer Art (die, wie klein die Abstände auch sein mögen, dem Entfernungs-
gesetze unterliegen müßten) spielen, dann könnte die Gestalt nur eine nach-
trägliche Resultante dieser „Molekularkräfte” darstellen. Davon kann aber
keine Rede sein. Die angeführten Beispiele zeigen das Ursprüngliche der Ge-
staltungskraft oder Bildekraft an, das wir in der Kohäsion vor uns haben.
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Karl Andreas Hofmann: Lehrbuch der anorganischen Chemie, 7. Aufl., Braun-
schweig 1931, S. 736. In dieser Darstellung ist nur das Wort „Aggregat”, zu deutsch
Häufung, Gemenge, anzufechten. Es handelt sich eben nicht um ein Gemenge,
ein bloßes Nebeneinander von Teilchen, sondern um einen a r t e i g e n e n
Z u s a m m e n h a l t der Teile — und eben das ist eine eigene Gestaltungskraft,
eher dem Verwachsenwerden von Teilchen ähnlich als dem bloßen Gemenge,
nämlich die Kohäsion.