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m a c h e r , d i e g e s a m t e R o m a n t i k u n d H e g e l hatten einen
organischen Staatsbegriff entwickelt. Von der romantischen Volkswirt-
schaftslehre war eine Kritik des Individualismus (Kapitalismus) und der
Anstoß zur Entwicklung des Historismus ausgegangen
1
. Die aus diesem
Historismus hervorgegangene geschichtliche Rechtsschule, die sich vom
Naturrecht lossagte, und die Rechtsphilosophie (Stahl, Ahrens, Röder)
entwickelten schon seit Hegel und Schleiermacher ein System der re-
gelnden Einwirkung des Staates.
Tiefen Eindruck machte daneben die s o z i a l i s t i s c h e K r i t i k
der vormarxistischen Sozialisten
2
, der in Deutschland Rodbertus, Lassalle,
Marx und Engels folgten. Aber die Meinung, daß die Sozialpolitik aus
der sozialistischen Kritik entstanden wäre, übersieht die Romantik.
Mit beidem verband sich endlich noch die praktische G e n o s s e n -
s c h a f t s b e w e g u n g , die, von Robert Owen begonnen, in Deutsch-
land von V i c t o r A i m é H u b e r (1800—1869)
3
, H e r m a n n
S c h u l z e -
D e l i t z s c h
4
u n d F r i e d r i c h W i l h e l m R a i f f e i s e n (1818—
1888)
weitergeführt, einen mehr oder weniger anti-individualistischen Charak-
ter trug.
In erster Linie als Sprößling der deutschen p h i l o s o p h i s c h e n
Entwicklung ist auch die sogenannte Stein-Mohlische „Gesellschaftslehre“
zu betrachten (nicht zu verwechseln mit der heutigen Soziologie, die zu
deutsch auch Gesellschaftslehre heißt). Sie wurde in den vierziger Jahren
von L o r e n z v o n S t e i n
5
begründet, von R o b e r t v o n M o h l und
anderen / bearbeitet. Diese Gesellschaftslehre stellt zwischen Volkswirt-
schaft und Staat die „Gesellschaft“ als die Summe der durch Besitz,
Arbeitsweise und Familie gegebenen persönlichen Abhängigkeitsverhält-
nisse und Beziehungen der Individuen. Diese Wissenschaft sollte nun
auch (bei Mohl) eine „ G e s e l l s c h a f t s z w e c k m ä ß i g k e i t s -
l e h r e “ , das heißt „ S o z i a l e P o l i t i k “ , in sich schließen. Diese
Einführung des Gesellschaftsbegriffes in das Schrifttum war von größter
Bedeutung für die tiefere Begründung praktisch-politischer Forderungen
und damit für das Aufkommen der Sozialpolitik. Steins Gesellschafts-
lehre aber stellt sich geradezu dar als H e g e l i s c h e S t a a t s p h i l o -
s o p h i e mit ihrer Lehre vom „objektiven Geist“, der sich in seiner
dritten Stufe, der Sittlichkeit, als „Familie“, „bürgerliche Gesellschaft“
und „Staat“ entfaltet. Diese „bürgerliche Gesellschaft“ Hegels und nichts
1
Siehe oben S. 185 ff.
2
Siehe oben S. 166 ff.
5
Victor Aimé Huber: Ausgewählte Schriften über Socialreform und
Genossenschaftswesen, herausgegeben von K. Munding, Berlin 1894.
4
Hermann Schulze-Delitzsch: Vorschuß- und Kredit-Vereine als
Volksbanken (1855), 8. Aufl., Berlin 1915.
5
Lorenz von Stein: Der Socialismus und Communismus des heutigen
Frankreich (1842), 3 Bde, 3. Aufl., Leipzig 1850, Neudruck München 1921;
Die Gesellschaftslehre (System der Staatswissenschaft, Bd 2), Stuttgart
1856; Lehrbuch der Volkswirtschaft (1858), 3. Aufl. unter dem Titel: Lehr-
buch der Nationalökonomie, Wien 1887.