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wieder) findet sich fast das ganze Geschlecht akademischer Volkswirte im
Verein für Socialpolitik vereinigt
1
.
Dieser geschichtliche Überblick kann uns zugleich das W e s e n d e r
S o z i a l p o l i t i k begreiflich machen. Sie ist eine Rückwirkung der
Gesamtheit auf die Bedrängung ihrer Glieder und Gruppen; sie will die
Staatshilfe und die Hilfe der Verbände (Gemeinden, Körperschaften) neben
die von der liberalen Staatsidee allein gutgeheißene „Selbsthilfe“ stellen.
Diese Forderung war, das gilt es festzuhalten, nur durch einen inneren
Umschwung in der Auffassung vomWesen der Gesellschaft und des Staates
möglich. Daher entsprang die Sozialpolitik zuletzt dem Siege der von der
deutschen klassischen Philosophie und der Romantik ausgebildeten
universalistischen Staatsidee über die individualistische Staatsidee.
Nicht jede Maßregel aber, welche dem Schutze einzelner Gruppen
dient (zum Beispiel Zölle zum Schutze der Landwirtschaft), kann, weil sie
der Idee des Staates als solidarischer Einheit aller Klassen entsprungen ist,
als sozialpolitisch angesehen werden. Vielmehr ergibt sich im engern und
eigentlichen Sinne die Sozialpolitik als E i n t r e t e n d e r
G e s a m t h e i t f ü r s o l c h e i h r e r G r u p p e n u n d
G l i e d e r , d i e i n A u s ü b u n g w i r t s c h a f t l i c h e r
V e r r i c h t u n g e n k o n s t i t u t i v b e n a c h t e i l i g t s i n d . Die
besitzlosen Lohnarbeiter und ähnliche Gruppen erscheinen gegenüber den
Kapitalisten dauernd im Nachteil. Ausschlaggebend für den Begriff der
Sozialpolitik ist aber weiter: daß nicht die P e r s o n e n a l s s o l c h e
(und aus persönlichem Mitleid) unterstützt werden, wie in der
A r m e n p f l e g e u n d W o h l t ä t i g k e i t , sondern daß sie bei der
Ausübung ihrer sozialen Verrichtungen die Hilfe der Gesellschaft finden.
So werden sie bei der Schließung des Arbeitsvertrages, bei der Konsumtion
(z. B. Wohnungspolitik), bei der Aufgabe der Kindererziehung (Schule,
Familienhilfe) unterstützt. Die Armenpflege ist gleichsam der tote Punkt,
die Grenze aller Sozialpolitik; und eine gute Armenpflege trachtet immer,
diesen toten Punkt zu überwinden, indem sie womöglich das Individuum
nicht als solches, z. B. durch ein Geldgeschenk, unterstützt, sondern ihm
Hilfe bei Ausübung bestimmter Tätigkeiten angedeihen läßt (z. B.
Ausstattung des Armen
1
Vgl. Franz Boese: Geschichte des Vereins für Socialpolitik von 1872
bis 1932, Berlin 1939.