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eine Wissenschaft, der aber als Fach mangels innerer Einheit der Erfolg
versagt war.
Hier zeigt sich deutlich, daß die von Philippovich und anderen ge-
äußerte Meinung, daß die sozialpolitische Richtung der Einwirkung des
vormarxistischen Sozialismus entspringe, abgelehnt werden muß. Wenn
auch die Beschäftigung mit dem französischen Sozialismus als auslösende
Ursache bei der Entstehung der Stein-Mohlischen Gesellschaftswissen-
schaft mitwirkte, so ist damit doch nicht ein neues Element in die deut-
sche Staatswissenschaft gekommen. Stein hat innerlich ganz aus Hegel
geschöpft, und der S t a a t s - u n d G e m e i n s c h a f t s b e g r i f f
d e r P h i l o s o p h i e d e s d e u t s c h e n I d e a l i s m u s b i l d e t i n
W a h r h e i t d i e U r q u e l l e d e r s o z i a l p o l i t i s c h e n E n t -
w i c k l u n g i n D e u t s c h l a n d .
In der Wirtschaftswissenschaft war allerdings trotz alledem die
Smith-Ricardische Doktrin herrschend geblieben. Durch die geschicht-
liche Schule aber wurde schließlich auch da ein Umschwung eingeleitet.
Nicht die abstrakte Wirtschaft, sondern die wirkliche Wirtschaft und
die ganze lebendige Gesellschaft und Geschichte wird jetzt Gegenstand
der Untersuchung. „Dadurch wurde die Nationalökonomie darauf ge-
lenkt, den Einzelnen nicht bloß als Individuum, sondern als Teil organi-
sierter Gesamtheiten zu betrachten und deren Rolle in der Wirtschaft
zu würdigen.“
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So kommt ein dem individualistisch und abstrakten ent-
gegengesetzter, mehr wirklichkeitsnaher, organischer Standpunkt zur
Geltung, welcher nicht zögern kann, für die Übelstände in den einzelnen
Gruppen der Gesellschaft das Ganze verantwortlich zu machen und die
Idee der Gerechtigkeit an die Stelle der schrankenlosen individuellen
Freiheit zu setzen. „Zugleich muß der Einzelne nicht nur als ein sein
persönliches Interesse verfolgendes Wesen behandelt werden, sondern
als eine dem Sittengesetz unterstehende Persönlichkeit.“
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Diese ethische
Seite hebt machtvoll die j ü n g e r e h i s t o r i s c h e S c h u l e
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hervor.
Es entsteht die s o z i a l - r e f o r m a t o r i s c h e R i c h t u n g — spott-
weise auch „ K a t h e d e r s o z i a l i s m u s “ genannt —, der sich auch
andere, der geschichtlichen Schule nicht unmittelbar angehörende Ge-
lehrte, wie A l b e r t S c h ä f f l e
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, oder Theoretiker wie A d o l p h
W a g n e r
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anschließen und die im Jahre 1873 unter der Führung der
deutschen Professoren, voran S c h m o l l e r s , zur Gründung des „Ver-
eins für Socialpolitik“ führte. Damals wie heute noch / (beziehungsweise
1
Eugen von Philippovich: Das Eindringen der sozialpolitischen Ideen
in die Literatur, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre
im 19. Jahrhundert, Gustav Schmoller zur 70. Wiederkehr seines Ge-
burtstages, Leipzig 1908.
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Eugen von Philippovich: Das Eindringen der sozialpolitischen Ideen
in die Literatur, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre
im 19. Jahrhundert, Gustav Schmoller zur 70. Wiederkehr seines Ge-
burtstages, Leipzig 1908.
3
Siehe oben S. 187.
4
Siehe unten S. 216.
5
Siehe unten S. 216.