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3.
D i e E n t w i c k l u n g d e r S o z i a l p o l i t i k
geht dahin, über die Heilung einzelner Schäden hinaus zu allgemeinen
Bindungen zu kommen, und ist dadurch genötigt, diesen mehr und mehr eine
k ö r p e r s c h a f t l i c h e F o r m zu geben, wodurch sie schließlich
unbewußt zu einer s t ä n d i s c h e n O r d n u n g der Wirtschaft hindrängt.
So z. B. standen am Anfange der Sozialreform Einzelbestimmungen über die
Sonntagsruhe und Arbeitszeit, später schuf man große Selbst- /
verwaltungskörper zur Durchführung der Zwangsversicherungen; anfangs
verbot man das Trucksystem, jetzt läßt man die Arbeiterverbände mit den
Unternehmerverbänden Kollektivverträge, die schon von ständischer Art sind,
abschließen
1
.
4.
Die t h e o r e t i s c h e M ö g l i c h k e i t d e r S o z i a l - u n d
W i r t s c h a f t s p o l i t i k
Vom Standpunkte der individualistischen Volkswirtschaftslehre ergibt
sich die Frage: in welchem Sinne Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik
überhaupt möglich sei? Nach der alten wie nach der neuen klassischen
Lehre (Menger, Cassel und andere) werden die Preise durch „exakte“,
mechanische Gesetze gebildet; und auf diese „Naturgesetze“ baut sich die
Verteilung, also insbesondere die Lohnbildung, um die es sich bei der
Sozialpolitik vor allem handelt, auf. Böhm-Bawerk prägte für dieses
theoretische
Problem
das
Schlagwort
„ M a c h t
o d e r
ö k o n o m i s c h e s G e s e t z ? “
2
.
Vom Standpunkte der alten wie der neuen liberalen Schule kann danach
kein sozial- und wirtschaftspolitischer Eingriff in die Preisbildung und
Verteilung auf die Dauer Erfolg haben. Daher auch die Individualisten die
Lehre vom „falschen Zirkel“ der Sozialpolitik aufstellen, wonach durch sie die
Waren teurer würden, was die zusätzliche Kaufkraft des Arbeiters wieder
aufzehrte; oder lehren, daß die Wertzuwachssteuer vom Käufer getragen
würde und dadurch in den Preis einginge und dergleichen mehr. Jüngst sagte
ein englischer Schriftsteller, daß jeder Versuch, gegen das Gesetz von Angebot
und Nachfrage anzukämpfen, hieße, „ d e n M o n d a n b e l l e n “
3
!
Böhm-Bawerk sagt, „daß sich der Einfluß
1
Vgl. mein Buch: Der wahre Staat, 4. Aufl., Jena 1938.
2
Vgl. Eugen von Böhm-Bawerks Aufsatz unter diesem Namen in der
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd 23, Wien
1914. Grundlegend dafür: Carl Menger: Untersuchungen über die Methode
der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere,
Leipzig 1883.
3
Vgl. Hubert Henderson: Angebot und Nachfrage, aus dem Englischen
von Melchior Palyi, Berlin 1924, S. 17,