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schaftlichem Beharrungszustand oder „Statik“ und Veränderungs- / fluß oder
„Dynamik“
1
nachdrücklicher hervorgehoben zu haben als dies bisher geschah
2
. Da es aber eine vollkommen beharrende Wirtschaft nicht gibt, ist damit nur
eine Hilfsannahme gegeben, die nützlich ist, aber zu Fehlern verleitete. — Im
übrigen ist das mathematische Verfahren wesenswidrig und vermag höchstens
die mit anderen Verfahren gewonnenen Erkenntnisse in überblickbarer und
eindeutiger Form darzustellen. Der erste Grundfehler ist die Annahme „ceteris
paribus“, das heißt, daß die Größen einzeln für sich, als sogenannte
„unabhängige Variable“, veränderlich wären. In einer mathematischen
Gleichung kann jeder Wert für sich variieren (z. B. r
2
zu r
3
), in einem
sinnvollen, organischen Ganzen, der Wirtschaft, nicht. Erscheint z. B. doppelt
so viel Eisen auf dem Markte, so muß mehr Erzförderung, Verhüttung,
Verfrachtung,
Kapitalaufwand,
Lohnzahlung
und
vieles
andere
vorhergegangen sein. Es wurde also nicht ein Faktor „variiert“, sondern alle —
die ganze Volkswirtschaft wurde geändert! Wenn daher die mathematische
Schule von „ I n t e r d e p e n d e n z “ der Werte spricht, so ist das in Wahrheit
Wechselwirkung, nicht Gegenseitigkeit, nicht Ganzheit. Wechselwirkung
erlaubt das „ceteris paribus“, Gegenseitigkeit erlaubt es nicht. Darum kann z.
B. in der Physik das Volumen allein verändert und dadurch die Folge-
änderungen an Druck und Temperatur mathematisch bestimmt werden;
während in der Ganzheit Leistung an Leistung erst sich bildet
3
, daher nicht für
sich veränderlich ist
4
. — Der zweite Grundfehler: es gibt Leistungen, die
unquantifizierbar und unverbrauchlich sind, nämlich die meisten geistigen
Leistungen, z. B. eine Erfindung, ein Handelsvertrag, ein organisatorischer
Gedanke, die von unbestimmt vielen benutzt werden können, auch ein
Genußgut, z. B. ein Geigenspiel.
Das vollständige Zu-Ende-Denken der individualistischen Voraus-
setzungen führt zum mathematischen Verfahren. Denn sobald der Preisbegriff
zum Hauptbegriffe des Systems wird, wie bei S m i t h u n d R i c a r d o ,
erschöpft sich schließlich die Theorie in der „ D a r s t e l l u n g r e i n
q u a n t i t a t i v e r B e z i e h u n g e n “ , wird also mathematisch. Damit aber
ist der ganze individualistische Systemgedanke ad absurdum geführt, denn das
Nicht-Quantifizierbare, das Geistige, ist die Hauptsache in der Wirtschaft, und
soweit Quanten auftreten, sind sie überdies nicht das Ursprüngliche, sondern
nur abgeleitet, das heißt nur Anzeiger, nur Indizes von B e d e u t u n g e n
5
.
— Gegen C a s s e l siehe oben Seite 217. Gegen Irving Fisher siehe oben Seite
218.
1
Siehe oben S. 58 und öfter.
2
Vgl. darüber insbesondere John Bates C l a r k : The Distribution of
Wealth. A Theory of Wages, Interest and Profits, London und New York 1899,
Neudruck 1908; im deutschen Schrifttum das angeführte Werk
S c h u m p e t e r s , dessen Grundformeln auf Walras zurückgehen.
3
Siehe oben S. 210.
4
Siehe unten S. 223.
5
Siehe oben S. 31.