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damit auch Rossebändigerin und Herrin der Rosse; bei ihr allein, der Vernunft,
hört die blinde Macht der Liebesgöttin auf
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, und auch die Gerichtshöfe, die Ge-
rechtigkeit als Vernunft, unterstehen ihr.
Von dem gewonnenen Standpunkt aus erklären sich alle anderen Verrichtun-
gen der Göttin: Sie kommt als Feuerkugel vom Himmel, sie ist mit den Blitzen
in Verbindung — alles Licht deutet auf Mystik! Sie führt die Ägis und das Gor-
gonenhaupt, denn die mystische Erkenntnis kann das Grauen aufdecken und den
Menschen mit Schrecken schlagen; ihr Eingreifen in den Kampf der Götter gegen
die Titanen scheint uns besonders wichtig — ohne den mystisch geborenen,
intuitiven Gedanken kann das Ungestaltete nicht gestaltet und überwunden
werden.
Die flammenden Augen der Göttin sind als Bild des L e u c h t e n d e n i m
m y s t i s c h e n G e d a n k e n aufzufassen und mögen ihr S i n n b i l d durch
die großäugige Eule erhalten haben. Die Eule sieht auch im Dunkeln und das
versinnbildlicht überdies den das Dunkel durchdringenden Gedanken (vielleicht
hat dies aber auch noch andere Wurzeln). — Sogar als Schild- / jungfrau können
wir ihr nun eine andere Seite abgewinnen, denn sind die W a l k ü r e n nicht
göttliche Gedanken, Gedanken Wotans?
Alle Züge der Athene stimmen zu dem aus der Ekstase zum intuitiven und
später zum reflexiven Gedanken erwachsenden mystischen Bewußtsein.
Das e x o t e r i s c h e Bewußtsein stellt begreiflicherweise die kluge Anwen-
dung des Gedankens in Wirtschaft, Krieg und Staat in den Vordergrund, so daß
diese Züge die Göttin praktisch (exoterisch) vor allem bestimmen; das e s o -
t e r i s c h e Bewußtsein vom Wesen Athenes dagegen bewahrt die mystischen
Züge: Die Verbindung mit Lichterscheinungen (als Feuerkugel), die Kopfgeburt,
die Hilfe für die mystischen Gestalten Jason, Herakles, die Überwindung der
Titanen, und, nicht zuletzt, die Jungfräulichkeit, die Bewahrung vor der Welt,
welche ihr wohl auch die weibliche Gestalt verlieh.
Alle diese Beispiele, die sich leicht vermehren ließen, zeigen uns
zugleich das s e h r h o h e A l t e r aller uns überkommenen Göt-
tergestalten an, da hinsichtlich ihrer Eigenschaften der vielfachen
Gliedhaftigkeit wie des Stufenbaues das Abgeleitete im Vordergrund
steht.
Z u s a t z ü b e r d i e G l e i c h s e t z u n g f r e m d e r G ö t t e r
m i t e i g e n e n
Aus der gleichzeitig vielfachen Gliedhaftigkeit der Götter verstehen wir auch,
warum die Gleichsetzung fremder Götter mit eigenen im Altertum so unbedenk-
lich vorgenommen werden konnte, ohne daß sich doch genaue Gleichungen er-
geben hätten. Wenn Herodot und Plutarch in Osiris den Dionysos, in Isis die
Demeter, in der Neith die Athene wiederfinden, wenn Tacitus die Götter der
Germanen durchwegs mit den römischen gleichsetzt, so entspricht das den viel-
fachen Ämtern aller Göttergestalten hüben und drüben, das heißt ihrer viel-
fachen Gliedhaftigkeit. Sehr deutlich spricht sich Plutarch darüber aus. „Wir
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Homer: 28. Hymnus.