[47/48]
37
E. Die S i n n e s e m p f i n d u n g
Nach herrschender Lehre kommt die Sinnesempfindung aus-
schließlich durch stoffliche Vorgänge zustande: durch die Einwir-
kung der Reize auf die Sinnesorgane, die Sinnesnerven und die zu-
gehörigen zentralen Zentren. Dieser Auffassung entspricht dann
entweder der offene Materialismus, den man aber heute nicht mehr
gerne eingesteht, oder der sogenannte psycho-physische Parallelis-
mus. In beiden Fällen sind die physikalisch-chemischen Vorgänge
die „unabhängige Variable“, die Empfindungen die „abhängige
Variable“. Parallelismus und Materialismus kommen also, mathe-
matisch ausgedrückt, auf dasselbe hinaus.
So sehr nun die Erforschung der physiologischen und physika-
lisch-chemischen Vorgänge zu fordern ist, so hoch auch ihre Er-
gebnisse zu schätzen sind, so wenig können die materialistischen
Folgerungen, kann überhaupt die rein stoffliche und positivistische
Auffassung der Sinnesempfindung gebilligt werden.
Die erste Voraussetzung für eine nicht-materialistische Einstel-
lung ist die Erkenntnis, daß es sich bei der Physik und Chemie der
Sinnesphysiologie nur um V o r b e d i n g u n g e n der Empfindung
handle, die Empfindung selbst aber durch g e i s t i g e Tätigkeiten
zustande komme! Nach Fichtes grundlegender Erkenntnis ist alles
Bewußtsein: Selbstsetzung und Selbstentgegensetzung (Objektivie-
rung) — Vorgänge, die der Natur entzogen sind, die auf anderer
Ebene ablaufen! D i e s e G e i s t e s t ä t i g k e i t i s t a u c h b e i
d e r E m p f i n d u n g u n e n t b e h r l i c h . Zum Beispiel hört
der in Gedanken Versunkene die Uhr nicht schlagen: Er muß sich
die Empfindung / selbst entgegensetzen (objektivieren), um
ihrer inne zu werden; durch „Wiedererkennen“ und andere Gei-
stestätigkeiten wird die Empfindung erst zur Wahrnehmung. Die
stofflichen Vorgänge hierbei sind immer nur stoffliche, nicht selbst
schon geistige — also unbedingt nur V o r b e d i n g u n g e n (mit-
telbar auch Anregungen) der Geistestätigkeiten, keineswegs diese
selbst.
Wie überaus wichtig diese leiblichen Vorbedingungen tatsächlich
sind, soll nicht übersehen werden; am klarsten beweisen das außer
den Erkrankungen der bezüglichen Organe und Nerven die Taub-
stumm- und Blindgeborenen, denen der größte Teil unserer Natur-