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Wir werden uns mit der Frage des Allgemeinen und Besonderen
noch zu beschäftigen haben, doch so viel ist hier schon klar: Der
Gesamtgegenstand, das All- / gemeine ist nicht das Arme, es hat
nicht „weniger Merkmale“ in sich als das Letztbesonderte; vielmehr
im Gegenteile, es ist die F ü l l e , i n w e l c h e r d a s B e s o n -
d e r e a n g e l e g t i s t , noch in S c h w e b e g e h a l t e n w i r d .
Ausgliederung ist Besonderung, ist Letztgestaltung oder Konkreti-
sierung. Das Ausgegliederte der niederen Stufe wird aber zu dem
der höheren Stufe nicht hinzugeschneit, sondern ist in ihr schon
p o t e n t i e l l v o r h a n d e n .
Dem Einwande, der Gang der Wissenschaften sei ein umgekehr-
ter, ist allerdings nicht jede Berechtigung abzusprechen. Er gilt aber
nur für die Erfahrungswissenschaften und auch da nur mit grund-
sätzlichen Einschränkungen. Wir werden diese Fragen später bei Er-
örterung der Induktion und Deduktion noch zu prüfen haben. Das
Grundsätzliche der Begriffsentfaltung, also der Begriffsbildung,
kann davon niemals berührt werden. Die Geschichte des spekulati-
ven Denkens zeigt das umgekehrte Bild. Die altindischen Upani-
schaden, die altchinesische Philosophie, die Philosophie Platons, Ari-
stoteles’ und ihrer Vorgänger entwickelt überall die höchsten Be-
griffe, welche spätere Zeiten erst zu besondern, zu konkretisieren
suchen.
Als Denkaufgabe der Induktion wird sich uns gerade die Verall-
gemeinerung ergeben. Es wird sich zeigen, daß kein Begriff anders
denn als Ausgliederung einer höheren Ganzheit dargestellt, begrün-
det werden könne — entsprechend dem Wege von der Eingebung
zur Vergegenständlichung, vom Ganzen zum Gliede.
/
II.
Vollkommenheit und Unvollkommenheit des Gegenstandes
und des Begriffes
Durch die naturwissenschaftliche Denkweise wurde die schon von
Platon und Aristoteles begründete Lehre, daß der Begriff das reine
Wesen des Gegenstandes in sich schließe, also das Ding in seiner
Vollkommenheit darstelle, völlig zurückgedrängt. Das Niederfallen
der Körper nach dem Fallgesetze, der Niederschlag des Wassers als
Regen nach den Kondensationsgesetzen, die Verbindung von zwei H
und einem O zu Wasser, erweisen sich diesem Denken weder als voll-