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Ein solches Bild zeigt uns die Geschichte der Wissenschaft allerorten.
Aristoteles unterschied noch „zweibeinig“, das ist der Mensch, von
„vierbeinig“, das ist das Tier. Heute dagegen reiht sich das Merk-
mal „zweibeinig“ in einen anderen Begriffszusammenhang ein, es
spielt in diesem keine Rolle und verschwindet daher fast. Dafür tre-
ten andere Merkmale (Teilinhalte), wie die Ausbildung des Zentral-
nervensystems, in den Vordergrund, das heißt in dem neuen Be-
griffszusammenhang, den man vom Baue des menschlichen Körpers
hat, ergeben sich andere Bedeutungen der Tatsachen!
Es zeigt sich also, daß n i c h t W e g l a s s e n u n d H i n z u -
f ü g e n die Begriffsbildung primär bezeichnen, da es sich ja viel-
mehr um die Frage handelt, was weggelas- / sen und hinzugefügt,
w o v o n abstrahiert und w o m i t determiniert werden soll. Ähn-
lich könnte man ja den König und seinen Kammerdiener dadurch
kennzeichnen, daß man feststellt, beide haben Kleider an. Diese
Feststellung ist unbestreitbar, und doch handelt es sich um etwas
ganz anderes: Soll schon von Kleidern die Rede sein, dann vom Wie
der Kleider, von den Abzeichen des Königs usw. Nicht also um Weg-
lassen oder Hinzufügen, vielmehr darum handelt es sich, was weg-
zulassen oder hinzuzufügen sei, um das W e s e n t l i c h e f e s t -
z u h a l t e n , das Wesentliche zu erkennen.
Die empiristischen Theorien, welche diese Lenkung der Abstrak-
tion und Determination einfach durch das vielen Eindrücken und
Vorstellungen „Gemeinsame“ — im statistischen, zahlenmäßigen
Sinne — bezeichnen und dieses Gemeinsame wieder durch Denk-
ökonomie bestimmt sein lassen, daher immer wieder auf die „Er-
fahrung“ zurücklenken, wie John Stuart Mill, haben wohl einen
primitiven, aber doch durchgebildeten Standpunkt. Die vermitteln-
den Standpunkte der formalen Logik, des Neukantianismus und
dergleichen dagegen können nur als zwiespältig bezeichnet werden.
Ist nun, wie sich zeigte, das Aufnehmen von Merkmalen von dem
jeweiligen Begriffszusammenhange abhängig, so fragt sich, wo dieser
letztlich seine Quelle habe. Keine andere, als die u n m i t t e l b a r e
Erfassung des Wesens der Dinge, keine andere als die Eingebung!
Die Eingebung ist aber nicht durch Weglassen und Hinzufügen,
durch Abstraktion und Determination bezeichnet, vielmehr durch
unmittelbare E i n h e i t mit dem intelligiblen Grunde des Ge-
genstandes, Einheit mit der Idee, der Ganzheit. Die Eingebung ist
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