Z w e i t e r A b s c h n i t t
Die Lehre vom Urteil
In der gesamten empiristischen und auch fast durchwegs in der
heutigen Logik wird dem Urteile (άπόφασις, iudicium, propositio)
der Vorrang vor dem Begriffe zugesprochen, da nach empiristischer
Auffassung das Urteil dem Begriffe zugrundeliegen, das heißt den
Begriff erst bilden soll. Die Definition des Begriffes geschieht ja
durch das Urteil, was darnach bedeute, daß es den Begriff erst bilde.
So schon Hobbes und Locke, ähnlich Hume, später Gruppe
1
, John
Stuart Mill, von den Neueren aber auch Sigwart, Wilhelm Wundt,
Külpe, ferner Bolzano und die phänomenologische Schule. Auch die
mathematische Logik beginnt mit den „Sätzen“, das ist gültigen Ur-
teilen, nicht mit Begriffen. Und die Grundrelation zweier Sätze soll
die sogenannte „Implikation“ sein (ähnlich wie im hypothetischen
Urteile), sofern man diese als aus zwei Urteilen — wenn x ist, ist
SP — zusammengesetzt denkt, die in Folgebeziehung stehen; also
eine „Folgebeziehung“ von Urteilen soll darnach eigentlich den
Hauptinhalt der Logik bilden.
Anders die idealistische Logik. Bei Platon, Aristoteles, ebenso bei
Fichte, Schelling, Hegel ist die transzendente begriffliche Wesenheit
— die „Idee“, „Form“ oder was ihr entspricht — die Grundlage des
Begriffes; das Urteil daher etwas dem Begriffe Nachgeordnetes. Dies
ist auch nach unserer ganzheitlichen Auffassung der Fall, die wir im
folgenden zu entwickeln haben werden. Ihr zufolge b i l d e t das
Urteil den Begriff nicht, / sondern entfaltet ihn nur. Es ist der Be-
griff, welcher dem Urteile zugrunde liegt, nicht aber liegt das Urteil
dem Begriffe zugrunde.
1
Otto Friedrich Gruppe: Wendepunkt der Philosophie im 19. Jahrhundert,
Berlin 1834, S. 48, 80 und öfters.