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Entfaltung ist Zerlegung, Unterscheidung. Wie das Ganze vor
dem Teile ist, ist das zu Zerlegende, Unterscheidende vor dem un-
terschiedenen Teile. Demnach ist, um es zu wiederholen, der Begriff
logisch vor dem Urteile. Daher denn auch tiefsinnig die deutsche
Sprache die Aussage als U r - T e i l bezeichnet. Keine bessere Be-
zeichnung könnte sich der Logiker wünschen!
/
Begriff und Urteil verhalten sich ähnlich wie Gedanke und Wort.
Das Wort drückt den Gedanken nur aus, stellt ihn dar, das Ur-
sprüngliche, Vorgeordnete ist der Gedanke, das Nachfolgende, Nach-
geordnete, Dienende das Wort. Der äußeren Erscheinung nach ist
das Wort ebenso wie das Urteil früher sichtbar als der Gedanke und
der Begriff. Aber schon Aristoteles unterschied „das für uns Frü-
here“ (πρότερον προς ύμας) von dem „der Natur nach Früheren“
(
πρότερο τή φύσει
).
So auch das Urteil: es ist das der äußeren Erschei-
nung nach „für uns Frühere“, dem Wesen der Sache nach, „der Na-
tur nach“, ist es das Spätere, der Begriff das Frühere. Daher ist sein
Wesen auch keineswegs, „Vorstellungsinhalte zu verbinden“ (aus
Vorstellungen wird nie ein Begriff, wie früher gezeigt); auch nicht,
„eingliederige Urteile zu verbinden“; vielmehr: schon vorhandene,
in- der Eingebung gegebene Gesamtgegenstände zu Begriffen zu
e n t f a l t e n , indem sie in Teilgegenstände zergliedert werden.
Indem sich der Gesamtgegenstand als die Ganzheit, der Teilgegen-
stand als das Glied erweist, verstehen wir den ersteren auch als das
S u b j e k t (S), das letzere als das P r ä d i k a t (P). Das Wesen des
Urteils ist damit inhaltlich wie formell bestimmt: Das U r t e i l
i s t d i e A u s g 1 i e d e r u n g d e s
G e s a m t g e g e n s t a n d e s i n T e i l g e g e n s t ä n d e , w o b e i
s i c h d e r G e s a m t g e g e n s t a n d a l s S u b j e k t , d e r
T e i l g e g e n s t a n d a l s P r ä d i k a t d a r s t e l l t .
Z u s a t z ü b e r H e g e l
Hiermit treffen wir grundsätzlich mit H e g e l zusammen. Er erklärt es in
der Logik als „Diremtion des Begriffs“, in der Enzyklopädie (§ 115) sagt er:
„Das Urteil ist der Begriff in seiner Besonderheit“; ferner: „Das Urteil ist die
am Begriffe selbst gesetzte Bestimmtheit desselben“
1
. Ähnlich der / Hegelianer
K u n o F i s c h e r : „Der Begriff als das Subjekt seiner Prädikate ist das Ur-
1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke, Bd 5, 2. Aufl., Berlin
1840, S. 65.