[199/200]
143
Weil nun jedes Urteil die Erfüllung der Bedingungen für das Be-
hauptete voraussetzt, so folgt weiter, daß auch jedes Urteil die hypo-
thetische Form annehmen könne. Hier tritt die Verwandtschaft mit
der Verneinung besonders hervor, denn es kann ja auch bekanntlich
jedes bejahende Urteil verneinend, wie jedes verneinende bejahend
gefaßt werden. (Zum Beispiel: „Die Rose blüht“ — „Die Rose ist
nicht blütenlos“; „Die Rose blüht nicht“ — „Die Rose ist blütenlos"
und ähnliches.)
Wie die Verneinung Irrtümer berichtigt und Gliederungen klärt,
so das hypothetische Urteil die B e d i n g t h e i t e n , und zwar
sowohl die zeithaften wie die zeitlosen. Im Zeitverlaufe stellt das
hypothetische Urteil zunächst G r u n d u n d F o l g e fest, das ist
die sinnvolle, wesensgemäße Verbundenheit in der Umgliederung,
z. B. den Rechtsgrund und die Rechtsfolge („Wenn einer stiehlt,
wird er bestraft“); ferner stellt es die u r s ä c h l i c h - m e c h a -
n i s c h e A b f o l g e fest. Und hier liegt nun der Schlüssel für
die grundlegende Stellung, welche die / neuzeitliche Logik dem hy-
pothetischen Urteile zuweisen will. Da die naturwissenschaftliche
Welt im überhitzten Kampfeseifer seit Galilei die Erforschung der
mechanistischen Ursächlichkeit vergöttert und sie u n b e r e c h -
t i g t e r w e i s e im hypothetischen Urteile das Urteil der Ur-
sächlichkeit sah, zeigt sich in vielen Formen das Bestreben, das
hypothetische Urteil zum grundlegenden zu machen.
Hier müssen wir auch ausnahmsweise der m a t h e m a t i s c h e n L o g i k
einmal gedenken. Diese Bestrebungen teilen natürlich erst recht die aus Natur-
wissenschaft und Mathematik selbst hervorgegangenen Logiker. Die mathemati-
sierende Logik faßt das hypothetische Urteil bekanntlich in dem Begriffe der
I m p l i k a t i o n oder der F o l g e b e z i e h u n g auf! Selbst ein sonst so be-
sonnener und unterrichteter Logiker wie Gerhard Stammler unterliegt diesem
falschen Zauber, wenn er sagt: „Die Implikation ist deswegen von so eminenter
Bedeutung, weil sie als logikalische Verkörperung und als der präzise Ausdruck
dessen genommen werden kann, was das hypothetische Urteil — das Stiefkind
der klassischen Logik — darstellt“
1
. Natürlich erhält, um die Spielerei vollstän-
dig zu machen, die Implikation nun ein eigenes Zeichen und wird angeschrieben:
p qu
2
.
Stammler sagt auch richtig, das hypothetische Urteil sei kein zusammengesetz-
tes Urteil, sondern: die Kombination („wenn x ist, ist S P“) sei selbst ein Urteil,
nämlich eine „Beziehung von Urteilen“
3
. Die „Beziehung“ müssen wir allerdings
1
Gerhard Stammler: Begriff, Urteil, Schluß, Halle 1928, S. 202 f.
2
Gerhard Stammler: Begriff . .., Halle 1928, S. 203.
3
Gerhard Stammler: Begriff . . . , Halle 1928, S. 282 f.