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kann daher dazu kommen, daß dieser Begriffs- und Wahrheitsgehalt
von ihm wieder herausgelesen, ausgegliedert wird — eine wichtige
Tatsache, auf die wir in anderen Zusammenhängen noch stoßen
werden (namentlich im Rückverbindungsurteile).
An anderen Begriffen als dem Individualbegriff „Sokrates“ wird
das noch klarer. Aus dem Begriffe der „Sonnennähe“ und „Sonnen-
ferne“ — etwa enthalten in dem Schlußurteil „Die Erdbahn hat
Sonnenferne und Sonnennähe“ — läßt sich auf die elliptische Ge-
stalt der Erdbahn zurückschließen: die Konklusion trägt die Prä-
missen in sich.
/
XIII.
Die Über- und Unterordnung im Schlusse und das
Dictum de omni et nullo
A. Das D i c t u m
Schon Aristoteles erkannte, wie oben ausgeführt, daß der Schluß
auf der Uber- und Unterordnung dreier Begriffe, des Oberbegriffes
und des Unterbegriffes (terminus maior und minor), vermittelt
durch den Mittelbegriff (medius), beruhe. Diese Lehre wurde von
den Späteren und der Scholastik nicht vertieft, eher verflacht, indem
sie sie zu dem sogenannten dictum de omni et nullo erweiterten,
dem Satze von allem und keinem. Er lautete: Was von allen gilt,
gilt auch von einigen und einzelnen; was von allen nicht gilt, gilt
auch von einigen und einzelnen nicht (quidquid de Omnibus valet,
valet etiam de quibusdam et singulis; quidquid de nullo valet, nec
de quibusdam et singulis valet).
Diese Formulierung hat die Schwäche, das Quantitative — „von
allen“ — hervortreten zu lassen, während es sich genau genommen
um Allgemeines und Konkretes, höhere und niedere Allgemeinheit,
zuletzt Konkretheit handelt. Die bekannte Formulierung des „dic-
tum“ durch K a n t lenkt wieder in den Begriff der Allgemeinheit
zurück: „Was einem Begriffe allgemein zukommt oder widerspricht,
das kommt auch zu oder widerspricht allem Besonderen, was unter
jenem / Begriffe enthalten ist“
1
. Das entspricht dem alten Grund-
1
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1920 (= Sämtliche
Werke, Bd 3), S. 253.