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Meister zu werden. Man begnüge sich daher nicht mit hingeworfenen
Gedanken, um zu anderen weiterzueilen, sondern man vertiefe sie, man
ordne sie in das Gebäude der Begriffe ein; freilich soll dies nicht in ein
umständliches Auskramen von Einzelheiten ausarten. Doch selbst dies ist
eher noch eine Tugend als das ungediegene, feuilletonistische Hinwerfen
von bruchstückartigen Gedanken.
Solches Beschränken, solches Verweilen ist zugleich wieder eine
Form der Sammlung und Zusammenfassung und mittelbar der
Versenkung.
F.
Die V o r s t e l l u n g d e s G e g e n t e i l s .
D i e S t e l l u n g z u m G e g n e r
Ein Kniff der Forschung, dessen sich manche nur allzusehr bedienen,
ist die Vorstellung des Gegenteils. Man fragt sich, ob nicht das gerade
Gegenteil eines Gedankenganges, eines Begriffes richtig wäre? Dabei
kommen außer lehrreichen Einblicken oft verblüffende und wunderliche
Gedankenreihen zustande. Ein guter Teil des „Geistreichen“ im
wissenschaftlichen Schrifttum, namentlich auch des geistreichen Geredes
der Tagesschriftsteller, kommt durch dieses Verfahren zustande. Selbst bei
Nietzsche wurzelt die Schlagkraft seiner Gedanken und Worte oft in der
Auflösung des Vorgefundenen ins Gegenteil. Solange dieses Verfahren
sehr behutsam und redlich gehandhabt wird, mag es immerhin nützen.
(Obzwar der Verfasser persönlich nichts damit anfangen kann, doch
scheint es für Nietzsche wichtig geworden zu sein.) Wo es jedoch schon in
eine geübte Technik und in / unfruchtbaren Widerspruchsgeist ausartet,
führt es zur Unredlichkeit des Denkens, damit aber zur Selbstzerstörung.
Mit diesen Bemerkungen ist auch die Stellung zum Gegner gegeben.
Den Gegner mit dem Vorsatze, ihn zu widerlegen, anzuhören, ist falsch,
eine solche Unterredung läuft auf Selbstbetrug hinaus. Man darf erst zum
Kritiker werden, nachdem man Schüler gewesen ist. Man muß d e n
G e g n e r m i t i n n e r e m S c h w e i g e n a n h ö r e n ; man muß sich
in seine Beweisgründe und in ihn selbst ganz hineinversetzen — denn nur
so wird man die volle Wucht seiner Wahrheiten in sich aufnehmen
können. Nur auf diesemWege wird man sowohl der Wahrheit gerecht wie
auch der Aufgabe der Kritik und der Selbstverteidigung. Dann erst, wenn